RENTE Sozialforscher Meinhard Miegel kritisiert das System. ABENDBLATT: Wie viel Rente bekomme ich überhaupt noch - das ist wohl die zentrale Frage, die sich die unter 40-Jährigen am häufigsten stellen. MIEGEL: Die derzeitigen Berechnungen der Bundesversicherungsanstalt gehen leider von recht wirklichkeitsfernen Annahmen aus. So soll die durchschnittliche Lebenserwartung in den kommenden 30 Jahren angeblich nur halb so schnell steigen wie in den zurückliegenden 30 Jahren. Außerdem werden die Berechnungsgrundlagen immer wieder verändert. Der Gesetzgeber hat seit 1977 zwölfmal zum Nachteil der Versicherten eingegriffen. In Zukunft wird das nicht anders sein. ABENDBLATT: Thema soziale Gerechtigkeit - wieso gehen die heute unter 40-Jährigen nicht auf die Barrikaden? Sie leisten hohe Rentenzahlungen, wissen aber bereits, dass sie davon kaum etwas wiedersehen werden. MIEGEL: In gewisser Weise gehen sie doch auf die Barrikaden. Millionen haben das System bereits ganz oder teilweise verlassen, indem sie schwarz arbeiten. 38 Millionen reguläre Erwerbstätige stehen etwa 10 Millionen Schwarzarbeitern gegenüber. Würden alle Schwarzarbeiter legal arbeiten, könnte die Rente noch eine ganze Weile problemlos finanziert werden. ABENDBLATT: Wann wird das Rentensystem nicht mehr funktionieren? MIEGEL: Seine Mängel werden im kommenden Jahrzehnt manifest werden. Dann befinden sich die geburtenstarken Jahrgänge von 1937 bis 1942 komplett in Rente. Zugleich treten sehr geburtenschwache Jahrgänge - zwischen 1988 und 1993 Geborene - in das Erwerbsleben ein. ABENDBLATT: Wie wird die Politik reagieren? MIEGEL: Der Anfang ist mit der Riesterrente gemacht. ABENDBLATT: Das ist keine substanzielle Änderung, denn Rentenzahlungen müssen weiterhin geleistet werden. MIEGEL: Und nicht nur die - außerdem werden die für die Finanzierung der Renten benötigten Steuern kräftig steigen. ABENDBLATT: Wird es zu einem Zeitpunkt X die Umstellung von einem umlagefinanzierten auf ein kapitalgedecktes System geben? Das würde bedeuten, dass diejengen, die zu diesem Zeitpunkt in Rente sind, um ihr finanzielles Auskommen fürchten müssten. MIEGEL: Eine Totalumstellung auf ein kapitalgedecktes System ist sehr unwahrscheinlich. Besser ist es, nach einer Phase des Übergangs die Altersversorgung etwa zur Hälfte durch ein umlagefinanziertes und zur anderen Hälfte durch ein kapitalgedecktes System sicherzustellen. Zurzeit liegt die Verteilung von staatlicher und privater Vorsorge prozentual ausgedrückt etwa bei 80 zu 20. Rechtlich gesehen müssen Rentenansprüche erfüllt werden. Das schließt nicht aus, dass die Rentenversicherungsansprüche nach und nach durch einen Anspruch auf Grundsicherung ersetzt werden können, die auf mittlere Sicht ungefähr auf dem heutigen Sozialhilfeniveau liegen würde. ABENDBLATT: Was bringt eine längere Lebensarbeitszeit? MIEGEL: Es wäre schon viel erreicht, wenn sich der Renteneintritt auf das 63. Lebensjahr erhöhen würde. Gegenwärtig liegt er bei knapp 60 Jahren. Durch einen späteren Renteneintritt könnte die Zunahme der Lebensdauer rententechnisch kompensiert werden. Aber ich warne vor Illusionen. Sicher können Hochschullehrer, Politiker und Journalisten über das 65. Lebensjahr hinaus arbeiten. Aber man kann nicht erwarten, dass 68-Jährige nachts mit Riesen-Lkw unterwegs sind oder als Dachdecker über die Dächer kraxeln. ABENDBLATT: Sie sind 63 Jahre alt. Sind Sie froh, zu diesem Zeitpunkt in Rente gehen zu können und sich über Ihre Altersvorsorge keine Sorgen mehr machen zu müssen? MIEGEL: Ich habe nicht vor, mit 63 Jahren in Rente zu gehen. Im übrigen habe ich der gesetzlichen Alterssicherung schon vor 30 Jahren nicht getraut. Unter Sozialwissenschaftlern ist seit Jahren unstrittig, dass das System so nicht funktionieren kann. ABENDBLATT: Hohe Rentenzahlungen plus Privatvorsorge - glauben Sie nicht, dass die Jüngeren irgendwann den Eindruck gewinnen, in ihrem Erwerbsleben nur noch für die Altersvorsorge zu zahlen? MIEGEL: Die Konsumansprüche der heute Jüngeren sind sehr hoch. Nicht umsonst gelten sie als eine verwöhnte Generation. In der ersten Hälfte der 60er-Jahre hatte ein durchschnittlicher Arbeitnehmerhaushalt die gleiche Kaufkraft, die ein heutiger Sozialhilfehaushalt hat. Da ich selbst in einem durchschnittlichen Arbeitnehmerhaushalt aufgewachsen bin, kann ich sagen, dass da keine Not geherrscht hat. Aber zugegeben: In den 60er-Jahren mussten die Arbeitnehmer nur knapp 14 Prozent ihres Bruttoeinkommens in die Rentenkasse zahlen, heute sind es reichlich 19 Prozent zuzüglich hoher Steuern.