Sportmedizin: Was der Kopf nicht verarbeiten kann, lädt er im Rücken ab. Neue Therapieprogramme können chronisch Kranken helfen und den Kassen Kosten sparen.

Wenn Joachim Mallwitz die Zeitung aufschlägt und im täglichen Rhythmus von Entlassungen, Betriebsschließungen oder Firmenverlagerungen ins Ausland lesen muss, weiß der Hamburger Orthopäde, dass eine Menge Arbeit auf ihn und sein Team zukommen wird. Mallwitz: "Schlechte Nachrichten und Rückenbeschwerden hängen eng zusammen." Was der Kopf nicht verarbeiten kann, und das ist das Kreuz des Lebens im aufrechten Gang, lädt er im Rücken ab.

Die Anatomie des menschlichen Körpers lädt dazu ein: Die Verspannung der aufgerichteten Wirbelsäule erfolgt mittels eines kompliziert gebauten, kräftigen Muskelstrangs. Die Ironie unserer Sonderstellung unter den Lebewesen: Was uns aufrecht hält, kann uns ganz schön runterziehen. Redewendungen wie "gram gebeugt" lassen das Wechselspiel erahnen, das mit dumpfen Schmerzen beginnt und oft in monatelanger Arbeitsunfähigkeit endet.

In modernen Therapieeinrichtungen wie dem Hamburger Rückenzentrum am Michel kann selbst chronisch Kranken ohne (Bandscheiben-)Operation, Spritzen und Medikamenten geholfen werden. Mallwitz, sein Kollege Gerd Müller und der ehemalige Tennisprofi Michael Stich gründeten die Einrichtung vor dreieinhalb Jahren. Was an der Ludwig-Erhard-Straße geleistet wird, haben externe Experten bewertet: 80 Prozent der Rücken-Patienten, die vorher drei Monate oder länger hintereinander krankgeschrieben waren, konnten dauerhaft an ihren Arbeitsplatz zurückkehren (der Rest leidet unter schweren Depressionen oder organischen Schäden). Im Bundesdurchschnitt liegt diese Quote bei 36 Prozent. Mehr als 30 Betriebskrankenkassen zahlen deshalb die bis zu 5000 Euro teure Therapie gern. Die Rechnung geht meist schon nach vier bis sechs Wochen auf: Dank der Einsparungen beim Krankengeld konnten die Kosten pro Patient durchschnittlich um 20 Prozent gesenkt werden.

Der Erfolg liegt im Miteinander von Orthopäden, Psychologen, Physiotherapeuten und Sportwissenschaftlern, dem täglichen Aufwand von bis zu sechs Stunden für den Patienten und den kontrollierten körperlichen Aktivitäten im hauseigenen Fitnessstudio. Kurzformel des Erfolgs: "Wir versuchen, die Schwierigkeiten zu entdramatisieren, die verbliebenen körperlichen Ressourcen zu mobilisieren und das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit zu stärken. Viele Rückenprobleme können ein Stück höher gelöst werden", sagt Mallwitz.

Wie wichtig das Zusammenwirken der Wissensgebiete ist, erfahren Mallwitz und Müller mit jedem Fall. Bei einem 58 Jahre alten Angestellten hatten sich die permanenten leichten Rückenschmerzen plötzlich in unerträglich heftige verwandelt. Nachdem er fünf Monate in Folge nicht mehr arbeiten konnte, schickte ihn seine Krankenkasse ins Rückenzentrum. Die Orthopäden hatten keine Erklärung für die Verschlechterung des Zustandes, die Physiotherapeuten ebensowenig. Die Psychologin fand die Ursache im familiären Umfeld des Patienten. Dort hatte es zuletzt mehrere Todesfälle gegeben. Die folgende Trauerarbeit linderte die Leiden.

Depressionen (zu 70 Prozent) und Angstzustände sind die häufigsten Auslöser chronischer Rückenschmerzen. Sie führen zu Muskelabbau bei denen, die sich zurückziehen, und Muskelverhärtungen, bei denen, die sich behaupten wollen. Die Rückzugstendenzen dieser Menschen umzukehren, die Ängste vor körperlichen Belastungen "schwer heben, schwer tragen, das schaffe ich nicht mehr", abzubauen, sind Grundpfeiler erfolgreicher Therapien. Die Botschaft, so Mallwitz, lautet: "Ich muss für meinen Körper etwas tun!" Passivität verstärke die Pein, wer sein Schicksal bekämpfe, wird stark.

Selbst einen Bandscheibenvorfall müsse niemand mehr als Super-Gau erleben, sagt Mallwitz und verweist auf wissenschaftlich abgesicherte Erfahrungen mit "segmentaler Stabilisation". Dabei werden die tiefen Bauch- und Rückenmuskeln, die direkt an den Wirbelsegmenten liegen, angesprochen, aktiviert und stabilisiert. Die Fähigkeit, diese Muskeln, die täglich die Knochenarbeit für das Skelett zu leisten haben, selektiv anzuspannen, führt zu einer Stärkung des Korsetts. Eine typische Übungsform beschreibt Mallwitz so: "Stellen Sie sich vor, Sie sitzen auf Toilette, lassen fiktiv Wasser - und halten dies plötzlich an. Sie spüren, wie Ihre Muskeln im Becken- und Lendenwirbelbereich nach innen wirken. Genau dies ist das Ziel." Oder: "Sie ziehen Ihren Bauchnabel langsam ein und halten diese Spannung, erst für einen Moment, dann immer länger, bis Sie nicht mehr können." Wiederholen Sie diese Übungen regelmäßig, und - dazu brauchen Sie weder Sportzeug noch Geräte - schaffen Sie die körperliche Grundlage, um danach Ihre äußeren, oberflächlichen Rückenmuskeln effektiv und sinnvoll zu trainieren. "Das kann dann in einem guten Fitnessstudio mit entsprechender fachlicher Anleitung erfolgen", sagt Mallwitz. Selbst Profiboxer haben sich nach einem Bandscheibenvorfall mit diesem Programm wieder in Topform gebracht.

Einen im klinischen Sinn kaputten Rücken kann fast jeder im Laufe seines Lebens beklagen. Schon bei 30 Prozent aller 30-Jährigen ließen sich im Kernspin-Tomographen Verwölbungen an den Bandscheiben nachweisen.

Die Rate steigt mit zunehmendem Alter und der Präzision der Untersuchungen. Schmerzen empfinden viele nicht. "Wer aktiv durchs Leben geht, trainiert seinen Körper auf natürliche Weise", folgert Mallwitz, "wenn ich all diesen Leuten erzähle, ihr habt da was im Rücken, mache ich sie erst krank." Ohnehin gilt: Wer Rückgrat zeigt, der lässt sich auch von schlechten Nachrichten nicht verbiegen.