Ansichtssache

Wenige Tage vor der Bundestagswahl ist aus dem blutleeren und themenarmen Wahlkampf urplötzlich eine Richtungsentscheidung geworden. Was die SPD mit Schönbohm und Stoiber nicht schaffte, gelang ihr mit "diesem Professor" Kirchhof, dem potentiellen Finanzminister einer von der CDU geführten Bundesregierung. Nämlich die Union in die Ecke zu stellen, die immer schon ihre offene Flanke darstellt: Immer dann geraten CDU und CSU ins Wanken, wenn sie als Partei der Ellenbogen und der Umverteilung von unten nach oben getadelt werden.

Damit gelingt es der SPD kaum, Stimmen aus dem schwarz-gelben Lager zu holen, doch bei den Parteien der "vereinigten Linken" gilt die SPD plötzlich wieder als bevorzugte Anlaufadresse - für diejenigen, die keiner Partei mehr zutrauen, die Arbeitslosigkeit deutlich zu reduzieren und in ihrer Not eher Schröder und Müntefering zum Sachwalter ihrer Interessen erklären als Merkel und Kirchhof.

Sechs Prozentpunkte konnten die Sozialdemokraten seit Anfang Juli in der Sonntagsfrage zulegen, vornehmlich aber auf Kosten der Linken (drei Prozentpunkte) und der Grünen (zwei Prozentpunkte). Zusätzlich finden Teile wahlverweigernder SPD-Enttäuschter wieder zurück in ihre (sozial-)politische Heimat. Die SPD legt also deutlich zu, ohne daß sich am Patt der politischen Lager Schwarz/Gelb sowie Rot/Grün/Links bislang etwas Grundlegendes ändert. Beide Lager haben annähernd gleich viele Stimmen.

Die SPD hat kurzfristig eine nicht mehr für möglich gehaltene Kommunikationswende geschafft: Ihr Herz für Pendler und Nachtschwestern läßt ihr Image als Hartz-IV-Partei verblassen, plötzlich ist sie wieder die der sozialen Gerechtigkeit, ganz so als wären die Staatsfinanzen in Ordnung. Wenige Tage vor der Bundestagswahl dominiert auf einmal das Gefühl über den Verstand. Ehrlichkeit hat vorübergehend ausgedient. Es darf wieder verteilt werden.

Auslöser dieser Sorge ist die aufkeimende Steuerdiskussion; die Sorge, daß die Union ihren neuen Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsschwung auf Kosten der kleinen Leute erreichen will. Also gelangt die SPD wieder in die Rolle des Schutzengels, die des sozialen Gewissens, etwa so: Der Kanzler möge bitte das Sozialabbau-Schreckgespenst verhüten.

Die zunehmend heftige Auseinandersetzung hat zu einer Polarisierung der politischen Lager wie lange nicht mehr geführt: mit dem Effekt, daß die große Koalition, vor einem Monat noch Wunschoption der Deutschen, zunehmend kritischer betrachtet wird: Statt für 31 Prozent wie noch im Juli ist sie jetzt nur noch für 23 Prozent die bevorzugte Koalition. Alle anderen Optionen steigern dagegen ihre Attraktivität: Schwarz-Gelb wird nun von 36 statt 31 Prozent gewünscht. Aber auch Rot-Grün sowie das Linksbündnis aus SPD, Grünen und Linkspartei erfreuen sich fast über Nacht wieder größerer Unterstützung.

Viele Deutsche stecken über Nacht in der Klemme: Das Gefühl will Schutz, der Verstand Reformen. Denn nach wie vor gilt die Union weiterhin als die Partei mit der deutlich besseren Kompetenz: Ihre Wirtschaftspolitik wird von 47 Prozent, die der SPD nur von 18 Prozent für kompetenter gehalten. Beim Arbeitsmarkt führt die Union mit 34:11 Prozent. Doch das heißt auch, daß mehr als jeder zweite eben keiner Partei noch zutraut, neue Jobs zu schaffen.

Vor die Alternative gestellt, welches im Wahlkampf vorgestellte Arbeitsmarktkonzept erfolgreicher sein könnte, trauen 52 Prozent der CDU-Programmatik (Lockerung des Kündigungsschutzes, Senkung der Lohnnebenkosten) mehr Erfolg zu als den SPD-Vorschlägen. Sogar unter den SPD-Wählern erhalten die Unions-Ideen eine ebenso große Zustimmung wie die eigenen Konzepte. Weiterhin hat für über 70 Prozent der Deutschen die Bundesregierung an Vertrauen verloren, mit ihrer Arbeitsmarktpolitik versagt, ihre Wahlversprechen nicht gehalten, sogar die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert.

Doch das zählt nur wenig, wenn die Deutschen plötzlich Angst vor zuviel Kirchhof bekommen und ihr Schutzbedürfnis aus Angst vor der eigenen Courage wieder dominiert. Daran ist zu sehen, daß es hier den einzigen Kompetenzwechsel gegeben hat: Plötzlich gilt die SPD im linken Lager wieder als die Partei, die unsere Sozialsysteme sicherer machen kann, soll heißen, den kleinen Leuten weniger in die Tasche greift.

Wenige Tage vor der Wahl verläßt viele Deutsche offenbar die Courage. Die Erkenntnis, was eigentlich gut wäre, ist vorhanden. Doch droht die Umsetzung, verläßt einige offensichtlich die notwendige Traute. Nicht auszuschließen, daß am 18. September zunehmend der Spatz in der Hand gewählt wird.