Irak-Lüge: David Kelly war Blairs Biowaffenexperte. Er soll geheime Informationen an die Presse gegeben haben. Jetzt fand man seine Leiche.

London/Hamburg. Ein Skandal um manipulierte Geheimdienstdaten, ein Premier unter Druck und dazu der rätselhafte Tod eines Biowaffenexperten - das könnte der Stoff aus einem Thriller von John Le Carre sein. Und doch geht es dabei nicht um Polit-Fiction, sondern um kalte Realität. Am Freitagmorgen fanden britische Ermittler in Southmoor bei Oxford eine Leiche. Erste Untersuchungen des Körpers und seiner Kleidung ergaben, dass es sich offenbar um David Kelly handelt, einen Berater von Premierminister Tony Blair. Er hatte einen Tag zuvor sein Haus in Abingdon verlassen, um einen Spaziergang zu machen. Als er nicht zurückkehrte, wurde er von seiner Familie als vermisst gemeldet. Der 59-jährige renommierte Mikrobiologe, Biowaffenexperte und frühere UNO-Waffeninspekteur, der zwischen 1994 und 1997 insgesamt 37-mal in den Irak reiste, stand im Zentrum der schwelenden Regierungskrise um fragwürdige Geheimdienstinformationen zu Iraks Rüstung. Der prominente BBC-Reporter Andrew Gilligan hatte im Mai Blairs umtriebigen Kommunikationsdirektor Alastair Campbell beschuldigt, er habe im September 2002 in Blairs Regierungsbericht hineinschreiben lassen, Irak sei in der Lage, binnen 45 Minuten Massenvernichtungswaffen einzusetzen. Campbell habe damit Blairs Rede "sexyer" wirken lassen wollen. Die Behauptung Blairs sorgte für Aufsehen und stützte den Kriegskurs der britischen Regierung. Inzwischen ist jedoch klar, dass sie völlig aus der Luft gegriffen war. Als mutmaßliche Quelle für die peinliche Enthüllung nannte das Verteidigungsministerium Regierungsberater Kelly. Er soll Gilligan über die getürkte Kriegsbegründung berichtet haben. Kelly hatte dies bestritten, aber ein Treffen mit Gilligan eingeräumt. David Kelley war somit der wichtigste Belastungszeuge in der Frage, ob die Regierung Blair die Öffentlichkeit belogen hat. Nun ist er tot, und die Frage lautet: Unfall, Mord oder Selbstmord? Schon wenn sich Kellys Tod als Selbstmord herausstellen sollte, wird die Regierung dafür mitverantwortlich gemacht werden. Denn es war Verteidigungsminister Geoff Hoon, der Kellys Namen öffentlich als Quelle für die in der BBC erhobenen Vorwürfe genannt hatte. Am Dienstag war der Experte vor einen Untersuchungsausschuss des Unterhauses zitiert worden. Wütende Abgeordnete hatten Kelly vorgeworfen, er habe die Regierung vorsätzlich ins Messer laufen lassen. Mit leiser Stimme hatte der sichtlich eingeschüchterte Mann dort ausgesagt - von einigen Abgeordneten ruppig aufgefordert, doch gefälligst lauter zu sprechen. Die Regierung habe den "ehrenwerten Dr. Kelly den Wölfen zum Fraß vorgeworfen", befand der konservative Abgeordnete Sir John Stanley mitleidig. Die Suche nach den wahren Hintergründen des Irak-Krieges, die Großbritanniens Öffentlichkeit seit Wochen beschäftigt, ist nun vollends zum Polit-Thriller geworden. In einer ersten Reaktion kündigte die Regierung eine gerichtliche Untersuchung zu den Umständen des Todes von Kelly an. Wenn politische Machenschaften Kellys Tod verursacht hätten, wäre dies eine "Tragödie von gespenstischen Ausmaßen", kritisierte der Konservative Richard Ottaway, Mitglied des Irak-Untersuchungsausschusses. Blair erreichte die Nachricht während eines Flugs von Washington nach Tokio - und hüllte sich zunächst in Schweigen. Böse Zungen erklärten dies mit der Abwesenheit seines "Sprachrohrs". Die Graue Eminenz Alastair Campbell, der den Premier sonst nie aus den Augen lässt, war nach Blairs umjubelter Kongress-Rede in Washington hoch befriedigt nach Hause geflogen.