Im neuen Irak sind die Vereinten Nationen unverzichtbar, sagt der frühere Generalsekretär Kurt Waldheim.

Wien. ABENDBLATT: Herr Dr. Waldheim, welche Rolle kann die UNO beim Wiederaufbau des Irak spielen? KURT WALDHEIM: Zunächst einmal geht es darum, die rasche innere Stabilisierung des Irak international zu unterstützen. Dazu ist der Konsens weit über den Kreis der kriegführenden Staaten hinaus notwendig. Nur im Schoß der Vereinten Nationen kann es gelingen, auch Europa, Russland und vor allem die islamischen Länder einzubinden. Die UNO und ihre Spezialorganisationen haben zudem eine konkurrenzlose Erfahrung in humanitären und sozialen Fragen. Je mehr es gelingt, das gemeinsame Dach der Weltorganisation in den Vordergrund zu rücken, desto besser nicht nur für das irakische Volk, sondern auch für die gesamte mittelöstliche Großregion, in der dieser Krieg ja gefährliche Bruchlinien und Konfliktszenarien neu eröffnet oder jedenfalls aktualisiert hat. ABENDBLATT: Aber kann die UNO das alles leisten? Ist sie nicht durch den Alleingang der USA zum Papiertiger geschrumpft? WALDHEIM: Sicher nicht. Auch wenn der Weltgemeinschaft einmal mehr die Grenzen ihrer Möglichkeiten aufgezeigt wurden. Aber natürlich wissen auch jene, die der UNO erst vor Wochen prognostiziert haben, sie wäre irrelevant, wie notwendig es sein wird, die neuen Realitäten möglichst rasch von der UNO absichern und stabilisieren zu lassen. ABENDBLATT: Welcher Schaden ist bereits für die UNO entstanden? WALDHEIM: Das ist derzeit noch schwer zu beantworten. Zunächst einmal schon deshalb, weil ein gewisses Abrücken von Völkerrechtsprinzipien und Ausscheren von internationalen Abkommen ja nicht erst mit dem Aufmarsch gegen den Irak begann, sondern schon früher. Die zuletzt bestehende Weltordnung ist also schon vor diesem Krieg fragil gewesen. Zum zweiten haben wir oft genug erlebt, dass sich die Welt in Pendelschlägen fortentwickelt - dass sich erst aus der Missachtung und Paralysierung einer Organisation wie der UNO ihr Wert deutlicher manifestiert; auch für jene, die damit ihre Probleme haben. Die USA haben seit der Gründung der UNO bei aller Kritik sehr genau gewusst, dass sie unverzichtbar ist. ABENDBLATT: Ein US-General hat jetzt die Regie im Irak übernommen. Werden die USA so nicht als Besatzer wahrgenommen? WALDHEIM: Dieses Risiko ist gegeben. Aber ich bin sicher, dass sich die USA dieser Gefahr sehr wohl bewusst sind. Wer eine über Jahrzehnte regierende, diktatorische Machtstruktur gewaltsam entfernt, muss zunächst mit einem totalen Machtvakuum rechnen. In dieser Situation von außen her eine Ordnung aufzubauen, ohne gleichzeitig den Verdacht der Fremdherrschaft auf sich zu laden, ist fast unmöglich. ABENDBLATT: US-Außenminister Colin Powell fordert, der UNO-Sicherheitsrat solle den US-Nachkriegsplan absegnen. Sehen die USA die UNO als Abnicker? WALDHEIM: Nein. Powell ist ein viel zu erfahrener Politiker, um der UNO allen Ernstes eine solche Funktion zuzumuten. Amerika wird sicher gut beraten sein, eine UNO-Legitimierung - etwa für die irakische Übergangsregierung - anzustreben. Aber zu vermuten, dass hier ein Ja einfach abgeholt werden kann, wäre unrealistisch. Im US-Außenministerium arbeiten genügend versierte UNO-Kenner, deren Wort jetzt am Ende dieses Krieges vermutlich noch aufmerksamer gehört wird. ABENDBLATT: Bedeutet die wichtige Rolle der UNO, die sie fordern, auch UNO-Truppen im Irak? WALDHEIM: Hier geht es jetzt nicht darum, zwei Kriegsparteien zu trennen und Bevölkerungsgruppen voreinander zu schützen. Das bisherige Regime existiert nicht mehr, es gibt keine Frontlinie - und eine Truppenentflechtung zwischen einer künftigen Ordnungsmacht und möglichen Selbstmordattentätern ist wohl undenkbar. Die Ordnungsstrukturen werden deshalb zunächst nur von den Kriegssiegern und/oder irakischen Kräften gestellt werden können. Was jetzt von der Weltgemeinschaft vorrangig gebraucht wird, sind Helfer. ABENDBLATT: War die UNO jemals so beschädigt wie jetzt gerade? WALDHEIM: Ich sehe die UNO nach den jüngsten Erfahrungen einmal mehr genau an jene Grenzen zurückgeworfen, die ihr schon durch die Gründungscharta systemimmanent aufgezwungen wurden. Das heißt: Immer sind Mächtige daran interessiert, ihren politischen Handlungsspielraum über das bestehende Völkerrecht hinaus auszuweiten, und Fesseln, die ihr von der Völkergemeinschaft auferlegt werden könnten, abzuschütteln. Und immer ist es die UNO, die Mächtige an diese Grenzen erinnert. ABENDBLATT: Einer dieser Mächtigen sind die USA . . . WALDHEIM: . . . ja, aber ohne Amerika hätte es die UNO nicht gegeben. Mehr noch: Amerika hat über Jahrzehnte hinweg nicht nur die Hauptlast des UNO-Budgets getragen, sondern auch sehr genau gewusst, welchen Wert die Weltorganisation darstellt. ABENDBLATT: Was würden Sie tun, wenn Sie heute UNO-Chef wären? WALDHEIM: Ich hätte mich sicher bemüht, genau das zu tun, was der derzeitige Generalsekretär Kofi Annan auch getan hat. Er hat alles versucht, was möglich war. Er hat das personifiziert, was Inhalt und Auftrag der UNO ist: Überparteilichkeit, unermüdlicher Kampf um Aufrechterhaltung von Frieden und ein mahnendes Weltgewissen ohne Ansehen von Rasse, Nation, Religion. ABENDBLATT: Die USA warnen aber bereits weitere Staaten wie Syrien oder den Iran. Befürchten Sie, dass die Vorgehensweise im Irak der Auftakt zu einer Reihe von "Enthauptungskriegen" ist? WALDHEIM: Die Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr groß. Auch die USA haben im Irak einen hohen Preis gezahlt - finanziell, menschlich und politisch. Und dass sich die Einteilung der Welt in Gut und Böse und den daraus abgeleiteten quasi-religiösen Handlungsauftrag für Amerika nicht weltweit umsetzen lässt, weiß man auch in Washington. ABENDBLATT: Was muss die UNO also jetzt tun? WALDHEIM: Das, was laut Charta ihre zentrale Aufgabe ist: als einmaliger Platz des globalen Gesprächs jede sich bietende Chance nützen, um diese immer vernetzter werdende Welt von der Geißel des Krieges zu befreien.