Der SPD-Spitzenkandidat Michael Naumann (65) über seine 2003 verstorbene Mutter Ursula:

Mein Vater hat mich nur einmal gesehen, kurz nach meiner Geburt. Er ist 1942 in Stalingrad gefallen. Meine Mutter saß fortan mit vier Kindern alleine da - wie hunderttausende andere Mütter in jenen Jahren auch. 1911 geboren, war sie das Kind eines Garnisonschefs in Trier, der nach dem Ersten Weltkrieg den passiven Widerstand gegen die französische Rheinlandbesetzung organisierte und darum binnen 24 Stunden mit seiner Familie die Stadt verlassen musste. Das war ihre erste Flucht innerhalb Deutschlands. Nach 1945 arbeitete sie als Büro-Angestellte in Köthen und musste 1953, vor einer Stasi-Verhaftung gewarnt, erneut mit uns fliehen, "in den Westen". Diesmal blieb aller Besitz zurück, sie musste ganz neu anfangen. Am Anfang waren Apfelsinenkisten unser Küchenmobiliar. Zu Geburtstagen gab es manchmal einen Kuchen, sonst nichts. Wir waren arm. Ihr wirklich grenzenloser Humor, ihr Fleiß und ihre Liebe zu den Kindern, auch zu ihrem ungezogenen Jüngsten, hielten die Familie zusammen. Vielleicht war es ihr Sinn für Gerechtigkeit, auf alle Fälle lehnte sie die konservative Rhetorik der CDU ab. Willy Brandt und Helmut Schmidt fanden ihr politisches Gefallen. Natürlich verlangte sie von uns, dass wir uns anstrengten, um das, was man später "Wiederaufstieg" nannte, zu schaffen. Für unsere Erziehung sparte sie sich das Geld vom Mund ab. Ewig dankbar bin ich ihr für die Bücher, die sie dem Zehnjährigen gab - ich musste ihr manchmal nach einer Woche erzählen, was ich gelesen hatte. Sie nahm mich mit in Konzerte und schickte mich ins Theater. Lieber wollte ich Fußball spielen, was ich auch tat, aber für Fußballschuhe hat es nie gereicht.

Auf ihre vier Kinder war sie stolz, ihr Glück und ihre Gesundheit waren ihr Lebensziel geworden. Nach der Wiedervereinigung sind wir gemeinsam zurück nach Köthen gefahren. Der Spaziergang durch die Stadt glich dem melancholischen Besuch in einem fernen und doch zugleich nahen Land. Bis zur Flucht hatte sie uns Kindern auf dem Klavier vorgespielt, am liebsten Schubert und Schumann. Danach spielte sie nie wieder. Sie wurde 92 Jahre alt. In der letzten Woche ihres langen Lebens erhielt sie einen großen Strauß Rosen ans Krankenbett. Er stammte vom einzig noch lebenden Klassenkameraden, ihrer Jugendliebe. Er war 1933 als junger, jüdischer Sozialdemokrat aus Deutschland geflohen und starb kurz nach ihrem Tod. Ich vermisse sie jeden Tag.