Die Glitzerwelt der Metropolen täuscht: Fernab von ihnen gehört Terror zum Alltag, doch davon nimmt das Ausland kaum Notiz. Wird sich das mit dem Blutbad von Bombay ändern?

Bombay. Die Welt schaut fassungslos auf Indien, die kommende Großmacht. Wie ist das möglich? Brutalster, blutiger Terror in der größten Demokratie der Welt, die doch gerade unbemannte Raketen zum Mond geschickt hat. Im neuen asiatischen Wirtschaftswunderland, in dem - zumindest bis zum Börsencrash im Oktober - vier der zehn reichsten Männer der Welt zu Hause waren. Wo sich in den Glas- und Chrom-Fassaden von Bangalore oder Hyderabad der Aufstieg zur IT-Weltmacht widerspiegelt und der Multimilliardär Mukesh Ambani ein 26-stöckiges Wohnhaus für seine bescheidene Familie ins Mumbaier Zentrum hinstellt. Der Subkontinent, aus dem der strahlende neue Schachweltmeister Viswanathan Anand stammt und wohin zivilisationsmüde Menschen aus Europa und Amerika pilgern, um bei Yoga und Ayurveda spirituell zu werden.

Auch Indien mit seinen fast 1200 Millionen Menschen ist fassungslos über die Anschläge der wenig bekannten Deccan Mudschaheddin. Aber weniger darüber, dass Bombay (heute Mumbai) vom Terror heimgesucht wurde, denn Drohungen hatte es schon seit Längerem gegeben. Vielmehr darüber, wie der Terror in der größten und reichsten Stadt des Landes zuschlug. Die eiskalte Logistik, die brutale Kaltschnäuzigkeit und das schiere Ausmaß des Bombayer Serienterrors haben die Inder geschockt. So etwas gab es bisher nur in New York, weshalb die Medien bereits von einem "indischen 11. September" sprechen.

Dabei gehören Bombenanschläge, Attentate und blutige Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Bundesstaaten, zwischen Kasten oder Religionen, sprich: Unruhen, auf etwa einem Drittel des indischen Territoriums fast zum Alltag. In den vergangenen zwei Jahren gab es ein rundes Dutzend Sprengstoffanschläge in verschiedenen Großstädten wie im touristisch beschaulichen Jaipur, in Hyderabad, Ahmedabad oder gar in der Hauptstadt Neu-Delhi mit mehr als 300 Todesopfern. Meist waren die Urheber islamistische Splittergruppen, erst in den vergangenen Wochen kam heraus, dass eine Reihe von Attentaten auch von hinduistischen Extremisten ausgelöst wurde. So wie 1993, als der Hindu-Mob nach einem Anschlag auf die Bombayer Börse Hunderte von völlig unbeteiligten Muslimbürgern umbrachte.

Manchmal kommt der Terror auch im ideologischen Gewand daher. In den Dschungelregionen Zentralindiens treiben seit Jahrzehnten die maoistisch ausgerichteten Naxaliten ihr Unwesen. Nach nepalesischem Maoisten-Vorbild sprengen sie Brücken in die Luft, ermorden Großgrundbesitzer, überfallen einsam gelegene Polizeiposten, erheben sogar Parallelsteuern von der Landbevölkerung oder ziehen deren Söhne in die Guerilla-Truppe ein. Der indische Bundesstaat wird ihrer nicht Herr. Und weil er das nicht wird und eine marxistische Terrorgruppe nicht zum Image einer aufstrebenden Wirtschaftsmacht passt, ignoriert er das Problem weitgehend. In den Grenzgebieten zu Pakistan kommt es wegen der ungelösten Kaschmirfrage oft zu blutigen Auseinandersetzungen, genau so wie im äußersten Nordosten des Landes, wo unter anderem die radikale Fraktion des Bodo-Volkes die Unabhängigkeit von der Indischen Union teilweise noch mit Pfeil und Bogen erkämpfen will.

Doch bisher operierten die Attentäter mit selbst gebastelten Bomben, die in gestohlenen Autos oder auf Fahrradgepäckträgern angebracht wurden. Schießereien fanden meist in unwegsamen Gegenden oder in den gesichtslosen Vorstädten der Metropolen statt. Diesmal aber trugen die Terroristen einen breiten, konzertierten Angriff von See auf das Zentrum der Finanz- und Filmmetropole Bombay vor. Und trafen so die indischen Supermacht-Träume mitten ins Herz.

Auch wenn die Inder es ungern wahrhaben wollen, noch immer ist das Land ein Riese auf tönernen Füßen. Hinter der glänzenden Fassade von "Incredible India" - so der offizielle staatliche Werbeslogan - verbergen sich tiefe Risse. Seit der Teilung der ehemaligen britischen Kolonie 1947 in Pakistan und Indien ist die Religionsfrage eine schwärende Wunde. Denn im überwiegend hinduistischen Indien gibt es immerhin 160 Millionen Muslime - zweimal die Bevölkerung von Deutschland. Viele Hindus argwöhnen, dass ihre islamischen Mitbürger eigentlich lieber mit den pakistanischen Brüdern im Glauben gemeinsame Sache machen wollten, und stehen ihnen oft in einer Mischung aus Ablehnung und Überheblichkeit gegenüber. In der Praxis bedeutet das zum Beispiel die Benachteiligung der Muslime bei der Besetzung von Verwaltungsposten. Es ist kein Zufall, dass die Deccan Mudschaheddin von Bombay, denen - allerdings von hinduistischer Seite - eine große Nähe zu Pakistan zugeschrieben wird, ein Ende der "Benachteiligung und Diskriminierung" der Muslime in Indien forderten.

Neben den religiösen Verwerfungen lässt die unglaublich tiefe Kluft zwischen Arm und Reich die aus der Ferne so harmonisch wirkende indische Gesellschaft nicht zur Ruhe kommen. Während die Familie Tata, die Gebrüder Ambani oder der Stahlkönig Sunil Mittal inzwischen zu den Spitzen der globalen Hochfinanz gehören, leben etwa zwei Drittel der Inder - 800 Millionen - in bitterster Armut. Sie verdienen zwischen 30 und 60 Dollar im Monat.

Zwischen den ganz Armen und den ganz Reichen strampelt sich die viel zitierte indische Mittelklasse ab. Sie ist in den vergangenen Jahren ohne Zweifel gewachsen. Mittelklasse bedeutet in Indien eine winzige Zweizimmerwohnung, ein Motorrad, Urlaub bei den Verwandten auf dem Lande und die Hoffnung, dass es den Kindern, deren Schulgeld man sich vom Mund abspart, einmal besser geht. Den Aufstieg zu schaffen bedeutet auch, die Ellenbogen zu benutzen. Für jeden, der nach oben drängt, bleiben ein paar andere auf der Strecke. Die Gefahr, in radikalen Parolen und Aktivitäten den Ausweg zu sehen, liegt nahe.

Auch innerhalb der hinduistischen Mehrheit der Bevölkerung sind die Spannungen enorm. Das Land, das 18 offizielle Amtssprachen hat, ist ein Pool der Rivalitäten. Radikal nationalistische Regionalparteien schüren die Ängste ihrer Klientel vor Überfremdung und Benachteiligung. Bombay ist die Hauptstadt des Bundesstaats Maharashtra.

Aufgeputschte Marathis - so heißen die Einwohner - haben in diesem Sommer Hetzjagden auf Zuwanderer aus dem Norden, aus den armen Bundesstaaten Bihar, Orissa oder Uttar Pradesh, veranstaltet. Auf Hindus wie sie. Diese Neu-Bombayer nehmen ihnen angeblich die Arbeitsplätze weg. In den meisten Fällen sah die Polizei, fest in marathischer Hand, den blutigen Ausschreitungen tatenlos zu.

Die größte Demokratie der Welt tut sich schwer. Zwar fehlt es nicht an Aufrufen von Politikern wie Ministerpräsident Singh, dem nach draußen vermittelten Image einer aufstrebenden modernen Nation gerecht zu werden. Doch die Praxis sieht anders aus. Die Bürokratie ist schwerfällig, die Korruption legendär, das Rechtssystem überlastet. Rechtssicherheit und Gleichheit vor dem Gesetz, zwei Eckpfeiler einer funktionierenden Demokratie, sind nur auf dem Papier gegeben.

Die Attentäter von Bombay haben erstmals in der blutigen Geschichte des indischen Terrorismus auch Ausländer gezielt ins Visier genommen. Besonders Amerikaner, Briten, Juden. Dies lässt eine Verbindung zu al-Qaida vermuten. Doch selbst wenn das internationale Netzwerk ihre verquere Gedankenwelt beeinflusst haben sollte, Indiens Terror scheint in erster Linie hausgemacht.