Toronto: Stadt im Ausnahmezustand. Schon 19 Menschen starben an der Lungenseuche SARS. Viele Einwohner müssen in ihren Wohnungen bleiben.

Toronto. Der graue, klotzige Waschbetonbau, der sich scharf gegen den stahlblauen Himmel abhebt, hat etwas Bedrohliches. Würde über dem Eingang nicht in großen Lettern "Mount Sinai Hospital" stehen, käme man nicht sofort darauf, dass es sich bei dem Gebäude in der University Avenue in Downtown Toronto um ein Krankenhaus handelt. Hier wirkt nichts einladend oder heilend. Der Eingang des "Mount Sinai", wie die Leute den Klotz kurz nennen, erinnert eher an den Ort eines Verbrechens. Gelbe Plastikbänder mit dem Aufdruck "POLICE LINE - DON'T CROSS" sind so gespannt, dass niemand die große Drehtüre benutzen kann. Zwei Polizisten in kugelsicheren Westen und mit Mundschutz vervollständigen das martialische Bild. Hinter den grauen Mauern sind in den letzten sieben Wochen 19 Menschen dem unheimlichen Killer SARS zum Opfer gefallen. Dass man SARS dingfest macht, dafür sind allerdings nicht die Ordnungshüter, sondern die Ärzte und Forscher in Mount Sinai verantwortlich. An der Innenseite der mächtigen Glaswand neben der Tür hängen zahlreiche offizielle Schreiben der Krankenhausverwaltung und des Gesundheitsministeriums. Darin wird mitgeteilt, dass Krankenbesuche bis auf weiteres nicht erlaubt werden können. Einzige Ausnahmen: Wenn ein unmittelbarer Angehöriger im Sterben liegt oder wenn Eltern ihre schwer kranken Kinder besuchen wollen. Vor dem Gebäude raucht eine junge Schwesternschülerin eine Zigarette. Anna Poulin arbeitet seit sieben Monaten im Mount Sinai. "Ich wollte kranken Menschen helfen, nicht in Dauerquarantäne leben", erzählt die 19-Jährige sichtlich frustriert. Ein kanadisches und ein australisches Fernseh-Team filmen vor der abgesperrten Tür die Situation. Die Reporter beschreiben die gespenstische Szene und erklären Toronto zur "Stadt im Ausnahmezustand". Das ist nur zum Teil richtig. Hier um das Mount Sinai Hospital, einen Steinwurf vom Staatsparlament von Ontario entfernt, glaubt man sich in der Kulisse eines Katastrophenfilmes à la "Outbreak" zu befinden. Absperrungen, Polizei, vermummte Ärzte, Pfleger und Kranke, TV-Übertragungswagen. Die Titelseiten der Gazetten in den Zeitungskästen vermelden: "Toronto zur Seuchenstadt erklärt" und "WHO rät von Reisen nach Toronto ab". Besonders Letzteres schlug wie eine Bombe in der größten kanadischen Stadt ein. Noch immer verstehen Ontarios Ministerpräsident Ernie Eves und auch Torontos Bürgermeister Mel Lastman nicht, was die Weltgesundheitsorganisation (WHO) dazu bewegt hat, eine Empfehlung gegen Reisen nach Toronto herauszugeben. Lastman poltert: "Uns hat niemand von der WHO angerufen, niemand war hier." Dr. Colin D'Cunha, Ontarios Kommissar für das Gesundheitswesen, stimmt dem Bürgermeister zu. "Diese Entscheidung ist wissenschaftlich durch nichts begründet." Die "National Post" vermutet "politische Gründe" hinter der Entscheidung und dass sie von China, das die gleiche Warnung für Peking bekommen hat, lanciert wurde. Tatsache ist, dass nirgendwo außerhalb Asiens so viele Menschen an SARS erkrankt und gestorben sind wie in Toronto. Nach einem längeren Gespräch mit führenden WHO-Vertretern hofft D'Cunha, dass die Organisation in Genf die Entscheidung vielleicht sogar schon am kommenden Dienstag wieder aufhebt. "Unsere Stadt ist sicher", sagt Lastman. Und wenn man dem Treiben in der Stadt zusieht, so scheinen die Menschen in Toronto fast ihren Geschäften nachzugehen wie immer. Fast. Denn die Wochen seit dem 3. März, als eine 78-jährige Frau erstmals an SARS starb, haben für eine wirtschaftliche Katastrophe gesorgt. Restaurants, Theater, Kinos und Museen melden Umsatzeinbrüche von 40 bis 60 Prozent. Die Einwohner Torontos halten sich an den ärztlichen Rat, sich möglichst nicht an öffentlichen Plätzen aufzuhalten. Noch ist nicht genau bekannt, wie SARS übertragen wird. Forscher sind sich jedoch ziemlich sicher, dass die unheimliche Krankheit auch durch Tröpfchen in der Luft, sprich durch Niesen und Husten, weiterverbreitet werden kann. Aus Infektionsangst haben Veranstalter bereits vier große Kongresse in Toronto abgesagt. Ein Verlust von 54 000 Hotelübernachtungen. Die meisten Hotels der Stadt sind nur noch zu 30 bis 40 Prozent ausgelastet. In Washington denken schon einige Parlamentarier laut darüber nach, die Grenze zu Kanada vorübergehend zu schließen. Im Chinesen-Viertel der Stadt, wo Geschäfte und Restaurants Verluste von bis zu 80 Prozent melden, reden viele von Bankrott. Heute wollten Elton John und Billy Joel gemeinsam in Toronto auftreten. Das seit Wochen ausverkaufte Konzert musste gestrichen werden, nachdem die beiden Musiker sich aus Angst vor SARS geweigert hatten zu kommen. Ähnlich wie nach den Terroranschlägen in New York hat die kanadische Regierung eine Soforthilfe in Höhe von 25 Millionen Dollar bereitgestellt, mit der der Tourismus wieder angekurbelt werden soll. Experten bezweifeln, ob der Trend dadurch schnell umgedreht werden kann. Presseberichte in den USA, von wo das Gros der Touristen kommt, haben dafür gesorgt, dass die Angst sehr tief sitzt. Die Nicht-Reiseempfehlung der WHO und eine Prognose von Nils Daulair, dem Präsidenten des Global Health Council (Weltgesundheitsrat), wonach im schlimmsten Falle in den nächsten Jahren "bis zu 60 Millionen Menschen an SARS sterben könnten", helfen auch nicht gerade, die Gemüter zu beruhigen. Da haben es Dr. Colin D'Cunha und Dr. James Young, Ontarios Kommissar für Öffentliche Sicherheit, nicht leicht, zu erklären, dass man die Lage "sehr gut im Griff" habe. D'Cunha meldet "eine positive Entwicklung". So sind zurzeit von ehemals 7000 Leuten, die unter Quarantäne standen, nur noch 663 dazu verdammt, ihre Wohnungen nicht verlassen zu dürfen. Von den derzeit vermuteten 265 SARS-Fällen in Toronto werden nur noch 84 stationär behandelt. D'Cunha wagt eine Prognose: "Wir haben noch einige sehr kranke Patienten, und es werden vielleicht noch zwei, drei oder vier Personen sterben, aber dann sollte das Schlimmste überstanden sein." So wird Bonnie Anderson noch eine Weile mit dem Schlimmsten leben müssen. Die 41-jährige Krankenschwester arbeitet auf der SARS-Station im Mount Sinai. Während sie früher nur im weißen Kittel zur Arbeit erschien, dauert es heute immer eine ganze Weile, bevor sie den Patienten helfen kann. Neben einem Haarnetz und einer Haube muss die Frau jetzt immer Mundschutz, Schutzbrille, jeweils zwei Kittel und zwei Paar Gummihandschuhe übereinander sowie Überschuhe tragen. Auch sonst hat sich das Leben der dreifachen Mutter in den letzten Wochen sehr geändert. "Ich gehe nicht mehr mit Freunden aus, da diese Angst haben, sich zu infizieren, und meine Kinder und meinen Mann küsse ich zurzeit auch nicht mehr, man weiß ja nie", berichtet Anderson. Hat sie Angst vor ihrer Arbeit? "Wenn man Angst hat, macht man Fehler. Ich tue, was ich gelernt habe. Ein Soldat kann auch nicht plötzlich sagen, ,Jetzt mag ich nicht mehr', weil es in den Krieg geht. Wir haben hier auch einen Krieg, und den werde ich zu Ende kämpfen."