Venedig von seiner wenig bekannten Seite erleben - bei einer Bootstour zu den kleinen Inseln.

Die meisten Touristen, die nach Venedig kommen, fahren auch nach Murano, wegen seiner weltberühmten Glasindustrie. Doch kaum jemand besucht die 20 kleinen, noch bewohnten der über 100 Inseln in der Lagune. Dabei blicken viele von ihnen auf eine interessante Vergangenheit zurück - und sie sind wie in sich geschlossene Miniwelten, jede hat ihren eigenen Charakter und ihre eigene Geschichte!"

Während unser Vaporetto tuckernd die Serinissima hinter sich läßt und Kurs auf Burano - nicht Murano - nimmt, bemüht sich ein junger Mann, einem Dutzend Nikon-bewehrten Japanern die venezianische Geschichte zu erklären. Er zeigt gestikulierend auf Leuchttürme, verwaiste Anlegebrücken, Pfarrkirchen und bröckelnde Palazzi. Pausenlos klicken Kameras, um zwischen den spritzenden Fluten flüchtige Eindrücke in Bildern festzuhalten.

Nach 20 Minuten kündigt sich Burano an - nicht nur durch seinen schiefen Campanile. Die veilchenblauen, smaragdgrünen und tizianroten Fassaden seiner winzigen Häuser leuchten selbst noch an grauen Wintertagen von weitem. Diese bunteste der Inseln hat von jeher von ihrem pittoresken Erscheinungsbild, dem Fischfang und der Stickerei gelebt. An den schmalen Kanälen im Dorf reiht sich ein Handarbeitengeschäft an das andere. Doch die Zeiten, als die Fischerfrauen vor ihren Haustüren saßen und für wenig Geld oft jahrelang an Decken klöppelten, sind vorbei. Solche Kostbarkeiten kann man heute, weil fast unbezahlbar, nur noch im Museo del Merletto, also im Spitzenmuseum, bewundern. Was auf den überladenen Tischen vor den Läden angeboten wird, stammt größtenteils aus Südostasien.

Die Venezianer selbst kommen vor allem an den Wochenenden auf die "isola". Denn die Speisekarten in den kleinen alteingesessenen Trattorien locken mit Gaumenreizen wie frittierte Garnelen, gegrilltem Aal oder Seeteufel in Weißweinsoße. Auch Ernest Hemingway soll die gute Küche auf den Inseln zu schätzen gewußt haben. Wenn er seiner Bellini- und Martini-Cocktails in "Harry's Bar" in San Marco überdrüssig war, schiffte er sich mit Freunden nach Torcello ein und bestellte in der Locanda Cipriani, zu hausgemachten Ravioli in allen Varianten, seinen Lieblingswein Amarone.

In der friedvollen Atmosphäre der Piazza, mit ihrer überdimensionalen Kathedrale und einem Souvenirshop davor, fällt es schwer, sich vorzustellen, daß Torcello im Mittelalter ein blühendes Handelszentrum war - und zeitweilig über 20 000 Einwohner zählte. Heute wohnen auf der Insel gerade mal 20 Menschen, die sich um die Sommerhäuser kümmern und ein paar Felder für den Eigenbedarf bestellen.

Venedigs Gemüsegarten war schon immer Sant'Erasmo. Und ist es teilweise noch. Auf den schmalen Sträßchen - zwischen Artischocken-, Zucchini- und Salatfeldern - begegnet man kaum einem Auto, nur radelnden Tagesausflüglern und ab und zu einem Pferdewagen. "Doch der Eindruck von lukrativen Geschäften mit der Landwirtschaft trügt", klärt Benito Vignotto, der gleich hinter dem Anlegesteg einen kleinen Minimarkt besitzt, jeden, der es hören will, auf. "Seit die Dogen da drüben die Transportkosten gestrichen haben, können unsere Produkte auf dem Festland preislich nicht mehr konkurrieren."

Dem drahtigen Endfünfziger haben die Dorfbewohner den Spitznamen "il veleno" (das Gift) verpaßt, erzählt er amüsiert. Denn er protestiert unverblümt gegen alles, was nicht geht. Auch dagegen, daß die Jungen immer häufiger abwandern, "weil der Ackerbau außer harter Arbeit nichts mehr bringt". Und gegen die gezielte Modernisierung der Inseln, die der traditionellen Lebensart kaum noch Spielraum läßt.

Die Lagune wechselt ihr Gesicht. Viele der vergessenen Eilande, auf denen noch die Trümmer von Festungen, Munitionsdepots, Lazaretten und Sanatorien stehen, wurden in den letzten Jahren gegen Bagatellsummen an öffentliche Institute und Privatunternehmen für "zeitgemäße Projekte" freigegeben. So beherbergt San Servolo die englischsprachige Venice International University, ein Zusammenschluß aus sieben Hochschulen, darunter auch die deutsche Ludwig-Maximilians-Universität.

Im benachbarten San Lazzaro degli Armeni büffelte bereits 1816 der englische Romantiker und passionierte Freiheitskämpfer Lord Byron die armenische Sprache. Padre Vertanes führt weltgewandt und simultan in fünf Sprachen durch das mit Memorabilien bespickte Zimmer Byrons, durch Gemäldegalerien und hochmoderne Bibliotheken.

Beschaulicher, ja fast romantisch, nimmt sich dagegen das Landfleckchen San Francesco del Deserto aus. Die Legende will, daß der Heilige aus Assisi dort 1220 persönlich vorbeigeschaut hat. Das nach herben Kräutern duftende kleine Paradies ist allerdings nur per Wassertaxi zu erreichen. Ab und zu erklärt sich auf dem nahegelegenen Burano auch ein Fischer gegen ein paar Euro für ein "lift" bereit.

Die so zahlreichen Klöster in der Lagune, die im Laufe der Zeit häufig den Orden wechselten, gehen auf die großen Kreuzzüge zurück. Viele der Pilger auf der Reise ins Heilige Land verließen die als Rastplätze dienenden Inseln nicht mehr und gründeten dort Konvente. Auch auf San Clemente stand eine Augustinerabtei, die in einen 5-Sterne Hotelkomplex umfunktioniert wurde. Hinter der Befestigungsmauer steht man plötzlich auf grünen Wiesen, mit hollywoodwürdigem Swimmingpool, Tennis- und Golfplatz. Und blickt von der Dachterrasse aus auf die vielen kleinen Schwesterinseln: Mikrokosmen, die im Meeresdunst wie Seerosen auf dem Wasser schwimmen.