San Marino hat zwei Gesichter: Einkaufsparadies für Touristen, malerisches Kleinod für Individualisten.

Der größte Feind der Sehnsucht ist die Erfüllung, meinte Erich Maria Remarque. Mitnichten war San Marino gemeint. Aber Remarques Einschätzung mag auf die kleinste und älteste Republik der Welt passen, sofern es Reisende überhaupt in diese Bergregion 700 Meter über dem Meer verschlägt.

Eine romantische Zwergrepublik im Dornröschenschlaf? Das ist längst überholt. Eingeschlossen von den italienischen Regionen Emilia-Romagna im Nordosten und Marken-Montefeltro im Südwesten sitzt San Marinos Altstadt spektakulär auf dem Monte Titano, etwa 15 Kilometer landeinwärts von der Adriastadt Rimini entfernt. Nur von dort aus ist San Marino zu erreichen, sofern man nicht mit dem eigenen Auto kommt. Täglich karren Busse unzählige Tagestouristen ins Mekka des steuerfreien Einkaufs. Bis zum frühen Abend geleitet ein Verkehrspolizist die Touristen dorthin, wo sich Geschäfte und Souvenirläden aneinander reihen. Lederartikel, Schmuck und Spirituosen, vor allem aber Briefmarken und Münzen sorgen für reißenden Absatz. Die sanmarinesische Währung gehört zu den teuersten Europas. Der komplette Satz in Folie ist nicht unter 300 Euro zu haben.

Der Charme des Zwergstaats offenbart sich erst am Abend. Längst sind die letzten Tagesbesucher mit vollen Einkaufstaschen abgefahren. Frei von Autoverkehr wird die Altstadt zur Flaniermeile. Sie gehört nun jenen, die in einem der traditionellen Hotels des ausgehenden 19. Jahrhunderts logieren.

Rosanna, unsere einheimische Nachbarin von gegenüber, sitzt genüsslich im Lehnstuhl auf ihrem kleinen Balkon. Ihr Schuhgeschäft hat sie geschlossen. Mit einem Drink in der Linken prostet uns die zierliche Person lächelnd zu und deutet auf die Farbenpracht am Horizont: Die untergehende Sonne taucht die umliegenden Apenninenhügel in warmen Schimmer, bis ein feuerrot fackelnder Abendhimmel die dunklen Bergzüge umschließt. Rimini, die Stadt am Meer, die dem Betrachter in der Ferne zu Füßen liegt, wird mit ihren Tausenden Lichtern zu einem optischen Erlebnis.

Auf dem Monte Titano erscheinen nun erst die Basilika, der Regierungspalast, die trutzigen Hausfassaden in den engen Gassen und die restaurierten Burgen mit ihren Wehrtürmen in ihrer architektonischen Vollkommenheit. Majestätisch thronen sie über dem Berggipfel.

Die wenigen Restaurants in der Altstadt sind empfehlenswert, etwa das "Righi" oder "Titano". Rosanna erzählt bei einem Rundgang: "Unsere Küche ist italienisch, mit Teigwaren wie strozzapreti alla boscaiola, capellati oder passatelli in brodo. Auch beliebt sind Carpaccio mit Parmesan und Trüffeln oder Adriafisch, je nach Angebot." Heimischer Wein rundet die Genüsse ab.

Die Altstadt ist verschwindend klein in Relation zur Gesamtfläche San Marinos, die immerhin 61 Quadratkilometer beträgt und in neun Regionen, so genannte Kastelle, unterteilt ist. "Was die Altstadt San Marinos an Zauber bewahrt hat, ist den restlichen acht Kastellen im wirtschaftlichen Aufschwung an Zauber abhanden gekommen", so ärgert sich ein Busfahrer.

San Marinos Nationalfeiertag am 3. September ist das größte Ereignis. Prunkvoll beginnt der Tag mit einem Umzug. In mittelalterlichen Kostümen erscheinen Edelleute mit ihren Damen. Ein großes Gefolge von Fahnenschwingern, Musikanten und Kriegern bahnt sich den Weg der Touristen bis zum Cava dei Balestrieri. In dieser Grube wohnen die Würdenträger an festlich gedeckter Tafel dem Wettkampf der Armbrustschützen bei.

Im Zwergstaat, niemals von feindlicher Macht überrannt, gehen allerlei Legenden um. Die bekannteste erzählt von der Staatsgründung, die auf den Heiligen Marino zurückgeht, einen Steinmetz aus Dalmatien. Er soll auf dem Monte Titano Zuflucht vor dem Kaiser Diokletian gefunden und eine Christengemeinde gegründet haben. Der Bürgerwille führte zu einer eigenen Kommune, die in der Republikgründung mit frühdemokratischen Prinzipien ihre Vollendung fand. 1243 wurden die ersten zwei Konsuln, sprich "Capitani Reggenti", gewählt. Bis heute gewährleisten die Amtsnachfolger die Souveränität des Landes. Der italienische Freiheitskämpfer Guiseppe Garibaldi fand nach dem Scheitern der Römischen Republik 1849 hier ebenso ein Versteck wie mehr als 100 000 Flüchtlinge während des Zweiten Weltkriegs.

Im 1894 errichteten neogotischen Regierungsgebäude zeugt das Interieur von Tradition und Reichtum. Wappen, Gedenktafeln und Büsten säumen den Treppenaufgang, majestätische Sitzmöbel schmücken den Regierungssaal. Das Monumentalgemälde an der Stirnwand zeigt den Heiligen Marino, wie er aus dem Himmelsgewölbe hinabschwebt.

Tagsüber empfiehlt es sich allerdings, aus San Marino zu flüchten. Wer das Treiben an der Adriaküste umgehen will, dem liegt das italienische Hinterland zu Füßen: Malerische Orte prägen das Marecchia- und das Concatal. Montebello, Nachbar der Pilgerstätte Santuario di Saiano, lädt am letzten Sonntag im August und am ersten im September zum traditionellen Honigfest ein.

San Leo, eines der schönsten Bergdörfer, ist nur durch ein einziges Stadttor zu betreten, dessen kleine Zugangsstraße sich in Serpentinen um den Berg windet. Auf dem Platz um den Dorfbrunnen steht die frühromanische Pfarrkirche, etwas abseits der Dom mit Campanile aus dem 12. Jahrhundert. Über allem wacht die Burg, die das Geheimnis des Grafen Cagliostro birgt, der hier sein Leben verlor.

Rückkehr zum Monte Titano am frühen Abend. "Habe ich Euch zu viel versprochen?", ruft Rosanna. Nein, wahrhaftig nicht.