Die Cinque Terre mit ihren Weinbergen über dem Meer sind ein ideales, aber anspruchsvolles Wandergebiet.

Am Vormittag ist in Vernazza die Welt noch in Ordnung. Agostino, der Wirt des "Gambero Rosso", trägt stolz sein Enkelkind über die kleine Piazza am Hafen. Aber schon bald rücken die Kellner nervös die Sonnenschirme zurecht. "Heute wird es schlimm", sagt einer zum frühen, noch ahnungslosen Gast. Gleich werden Scharen von Tagesausflüglern einfallen. Eine Traumkulisse, vor Jahren noch als Geheimtipp gehandelt, ist heute vor allem an Wochenenden das Ziel für Massen von Insidern: die Cinque Terre. Alles andere wäre auch ein Wunder. Denn kein zweites Stück Küste in Italien ist so dramatisch schön.

Nirgendwo kann man herrlicher wandern und so wunderbar über Weinberge aufs Meer schauen. So musste der Sentiero Azzurro, der Küstenwanderweg Nr. 2, zwangsläufig zu Italiens beliebtester Wanderroute werden. Und deshalb geht es dort an manchen Tagen fast nur noch im Gänsemarsch durchs Paradies. Bei Gegenverkehr auf schmalen Stiegen kommt es häufig zum Wanderer-Stau. An Werktagen ist es erträglicher. Aber man kann auch den Wochenend-Trubel meiden, indem man ausweicht auf den Sentiero Nr. 1, den ligurischen Höhenweg. Der Aufstieg geht oft über steile Treppen. Aber hat man erst einmal 600 bis 800 Höhenmeter erreicht, ist der Preis für den Schweiß, an alten Wallfahrtskirchen zum Beispiel, ein fast unglaublicher Ausblick.

Cinque Terre, das sind fünf Dörfer an der Riviera di Levante zwischen Genua und La Spezia: Monterosso al Mare, Vernazza, Corniglia, Manarola und Riomaggiore. Bis auf Corniglia, das auf einem Felsklotz thront, liegen alle direkt am Meer. Vor allem Vernazza, Manarola und Riomaggiore wirken wie von romantischen Bühnenbildnern entworfen, krallen sich kühn verschachtelt in Nischen an der Steilküste. Sie liegen weitab von allen Durchgangsstraßen. Die alte Via Aurelia und die Autobahn machen einen respektvollen Bogen um die Cinque Terre. Siedlungen gab es früher in diesem Teil Liguriens nur im Hinterland, wegen der ständigen Überfälle durch Sarazenen und Piraten. Erst als die Seerepublik Genua für sichere Verhältnisse gesorgt hatte, zog es die Menschen an die Küste. Die fünf Dörfer blieben bis zum Bau der Eisenbahn ohne Verkehrsanbindung, waren nur vom Meer aus zu erreichen. Das Projekt einer Cinque-Terre-Panoramastraße wurde zum Glück bald nach Baubeginn aufgegeben. Heute kann man dennoch alle fünf Orte mit dem Auto ansteuern. Aber viel Sinn macht das nicht, denn es geht umständlich über schmale, sich endlos windende Stichstraßen. Und Parkplätze sind am Ortsrand meist Mangelware. In den Dörfern gibt es Parkraum ohnehin nur für Fischerboote.

Fischerdörfer sind die Cinque-Terre-Orte aber nie wirklich gewesen, auch wenn vor allem in Monterosso früher Jagd auf den Thunfisch gemacht wurde. Es gab aber nie sehr viele Fischer. Die Einwohner waren immer überwiegend Weinbauern. Vor rund 700 Jahren begannen sie, die Wälder an den zum Meer abfallenden Hängen zu roden und eine Kulturlandschaft aus winzigen Terrassenfeldern anzulegen. Über Generationen schufen sie das filigranste Weinbaugebiet der Welt. Es heißt, die Rebhänge seien zum Teil so steil gewesen, dass die Winzer sich zur Weinlese abseilen mussten. Gesichert wurde dieses Stück Kunstlandschaft durch Trockenmauern. 8000 bis 11 000 Kilometer solcher ohne Mörtel aufgehäuften Stützmäuerchen soll es geben.

Und genau das ist heute das große Problem im Paradies Cinque Terre. Immer mehr Terrassen werden nicht bearbeitet. Die Plackerei will sich niemand mehr zumuten. Allein in den letzten 20 Jahren wurde die Hälfte der hiesigen Rebflächen aufgegeben. Die Winzerkooperative im Dorf Groppo oberhalb Manarolas bringt es nur noch auf 300 000 Flaschen im Jahr. Kein Wunder, dass der echte Sciacchetra-Dessertwein eine teure Rarität geworden ist. Die Trockenmauern zerfallen mit der Zeit, wenn sie niemand ausbessert. Irgendwann rutschen dann die Hänge ab, stürzt ein Stück typische Cinque Terre unwiederbringlich ins Meer. Selbst die Via dell'Amore, der Liebespfad, als berühmtestes Wegstück war von Erdrutschen übel betroffen, musste lange Zeit gesperrt werden und ist heute durch viel Beton und Tunnelstrecken vor Steinschlag geschützt.

Am Bahnhof von Riomaggiore zeigen Wandgemälde die wah-ren Helden der Cinque Terre, die Murales genannten Trockenmauer-Erbauer. Nachdem die Cinque Terre im Jahre 2000 Nationalpark wurde, geben alte Männer in Arbeitsferien ihr Mau-er-Wissen an junge Leute weiter, können Fremde Patenschaften für vernachlässigte Terrassen übernehmen. Die Rettung und Wiederherstellung der Trockenmauern wird auch durch Ein-trittsgelder finanziert. Wer zwischen Monterosso und Riomaggiore wandert, muss pro Tag drei Euro zahlen. "Nur so kann diese Landschaft überleben", versichert der agile Nationalpark-Chef Franco Bonanini.

Zwölf Kilometer lang ist die klassische Cinque-Terre-Wanderung auf dem Sentiero Azzurro, dem blauen Küstenweg. In vier bis sechs Stunden ist das gut zu schaffen. Nicht für jeden freilich: "Das ist ja Wahnsinn!", stöhnt eine Signorina in Stöckelschuhen. Sie ist Opfer eines durchaus nicht seltenen Missverständnisses. Sie hatte von der bequemen Via dell'Amore gehört. Aber das ist nur ein Teilstück zwischen Riomaggiore und Manarola. Dort kann man sogar einen Kinderwagen schieben. Aber wer in Monterosso anfängt, dem steht gleich das beschwerlichste Wegstück bevor. Doch der Abschnitt bis Vernazza und weiter nach Corniglia ist der schönste. Rauf und runter geht es auf altem Maultierpfad durch Weinterrassen und Olivenhaine, vorbei an Steineichen, Esskastanien, Agaven und Zitronenbäumen.

Monterosso fällt etwas aus dem Rahmen, ist mit über 20 Hotels und dem einzigen Sandstrand schon richtiger Ferienort. In den anderen Orten hat man eher in Privatquartieren eine Chance. Aber man muss gar nicht unbedingt in einem der fünf Dörfer wohnen. Auch Riviera-Orte wie Bonassola und Levanto bieten sich an. Mit der Bahn ist man - fast nur im Tunnel fahrend - schnell und preiswert in jedem der Dörfer. Überhaupt sollte man seine Wandertouren nicht eng auf die Cinque Terre begrenzen. Von Levanto aus führt zum Beispiel ein Weg zur Punta Mesco mit Blick über die gesamte Cinque Terre und weiter hinab nach Monterosso. Eine der spektakulärsten Routen verläuft nach langem Anstieg von Riomaggiore nach Campiglia an steilen Hängen hoch über dem Meer nach Portovenere. Dort ist man dann schon am von Lord Byron gepriesenen Golf der Dichter.

Zurück geht es am besten mit einem der Boote, die zwischen Portevenere und Levanto verkehren. Dabei hat man dann das ganze Terrassen-Panorama der Cinque Terre aus Seefahrer-Sicht vor sich.