Pompeji ist viel mehr als eine antike Ruinenstadt. Es verzaubert und läßt vergangenes Leben aufleuchten.

Man muß aufpassen, daß man auf der A3, gute 20 Kilometer südlich von Neapel, nicht die richtige Ausfahrt verpaßt. Schlägt man dann im Straßengewirr die falsche Richtung ein, präsentiert sich erst einmal das moderne Pompeji. Mit seiner berühmten Vorgängerin hat das 30 000 Einwohner zählende Städtchen jedoch wenig zu tun. Manche spotten sogar, Neu-Pompeji sei nur eine Anhäufung aus faden Mietshäusern, Hotels, Pizzerien und Souvenierläden. Und die pompöse Wallfahrtskirche der Madonna des heiligen Rosenkranzes habe man nur deshalb auf die Piazza gesetzt, um die Pompejaner der Neuzeit vor den unchristlichen Ausschweifungen ihrer temperamentvollen Vorfahren zu bewahren.

In der "citta' antica" nahmen die Götter Bacchus und Venus zweifellos einen Sonderplatz ein. Oder wie es Signor Gallo von der archäologischen Oberaufsicht amüsiert ausdrückt: "Ohne Wein, Spiele und Eros lief so gut wie gar nichts." Speziell in der Kunst. So dekorierte man nicht nur die Wände der öffentlichen Badeanstalten und der Tavernen mit Malereien, die so manches heutige Pornoheft in den Schatten stellen, sondern oft und gern auch die Eß- und Schlafzimmer in Privathäusern der Stadt. Wer sich stilvoller geben wollte, verband Erotik mit Mystik und Arte auf hohem Niveau. Ein Musterbeispiel dafür ist der 17 Meter lange Freskenzyklus in der Villa die Misteri, der als die "Einweihung in den Dionysoskult" gedeutet wird.

Sexuelle Vergnügungen und groteske Männlichkeit wurden auch gern als Skulpturen oder Öllampen und auf Vasen dargestellt. Als der neapolitanische König Francesco I. 1819 die Fundstücke der Ausgrabungen besichtigte, ließ er die "obszönen Gegenstände" empört in einer Kammer verschließen, zu der fortan nur "moralisch Standfeste" Zugang hatten. Heute ist Kindern immer noch das Betreten des Gabinetto Segreto im Archäolopgischen Nationalmuseum von Neapel verwehrt.

Auf den dionysischen Kult zurückgehende Symbole waren vor allem über den Türen der fast zwei Dutzend Lupanari, den damaligen Eros-Centern, angebracht. Liebeserklärungen, Possen und auch boshafte Kommentare pflegte man, wie an diversen Stellen noch erkennbar ist, in Hauswände einzukratzen. Ähnlich wie heute mußten die Wände auch für Proteste gegen Gerichtsurteile herhalten, für Grundstücksangebote oder die Werbung für Wahlkandidaten oder Gladiatoren.

Die Pompejaner standen zweifellos mehr auf Emotionen und Unterhaltung als auf Geist und Kontemplation. Das Kleine Theater mit 1000 Plätzen, das musikalische und poetische Darbietungen offerierte, konnte an Beliebtheit nicht mit dem 5000 Sitze fassenden Großen Theater konkurrieren. Dort gab man vor ständig ausverkauftem Haus Stegreifkomödien, die die Besucher mit Gejohle und lauten Kommentaren begleiteten. Ausverkauft waren die Amphitheater, wo die leidenschaftliche Anteilnahme an den Kämpfen nicht selten mit wilden Schlägereien und sogar Toten endete.

Ein weiterer Mittelpunkt des öffentlichen Lebens waren die Thermalbäder, die sich an den meistbesuchten Stellen der Stadt, wie dem Forum mit seinen Märkten, befanden. Nach dem heißen, lauen und kalten Bad ließ man sich mit Massagen und Schönheitskuren verwöhnen, bevor man sich zum Sport in die Palästra begab. Ein Spaziergang unter schattenspendenden Pinien und Platanen, bei denen man die letzten Neuigkeiten austauschte, schloß gewöhnlich das Ganztagsprogramm ab.

Pompeji verdankte seinen beachtlichen Wohlstand hauptsächlich einem blühenden Handel mit Getreide, Öl und Wein, die von Bauern und Tagelöhnern auf den fruchtbaren Landgütern an den unteren Vesuvhängen angebaut wurden. Der Zugang zum Meer begünstigte die Geschäfte. Die besten Lagen wurden nach Gallien und Nordafrika exportiert. In den einheimischen Kneipen, Bars und Spielhäusern wurde dagegen für wenig Geld der süffige Krambambuli ausgeschenkt.

Ein Gang durch das Stadtzentrum bedeutete aber auch, auf Shoppingtour zu gehen. In der Via della Abbondanza, der Straße des Überflusses, oder der Via della Fortuna, der Straße des Glücks, gab es zahlreiche Stoffgeschäfte, Drogerien, Frisiersalons, Eisenwaren- und Schustergeschäfte, Wäschereien und Bäckereien, in denen Sklaven bis zur totalen Erschöpfung für ihre Padroni die Mühlen drehten. Dazwischen drängten sich billige Herbergen, die fliegenden Händlern mehr schlecht als recht Unterkunft boten. Anspruchsvollere Reisende waren auf die Gastfreundschaft von Freunden oder Geschäftspartnern angewiesen. Sie logierten in luxuriösen Villen am Stadtrand mit kunstvollen Bodenmosaiken und Brunnengärten, umsorgt von zahlreicher Dienerschaft.

Das Leben in Pompeji nahm seinen gewohnten Verlauf, als am Morgen des 24. August 79 v.Chr. der Vesuv ausbrach und im Umkreis von 15 Kilometern alles Leben auslöschte. Die riesige Wolke aus Schlacke und Asche, die den Himmel verfinsterte, begrub auch die romanisierte Provinzstadt in ihrer morgendlichen Geschäftigkeit und konservierte sie für die staunende Nachwelt. Über zwei Millionen Touristen besuchen heute jährlich die zum Weltkulturerbe der Unesco gehörende, größte antike Ruinenstadt. Dabei sind die Mitte des 18. Jahrhunderts begonnenen Ausgrabungen noch lange nicht abgeschlossen. Doch es fehlt das Geld dafür, sagen offizielle Stellen der Stadt.

Trotzdem hat die Soprintendenza Archeologica alle Hände voll zu tun. Sie bemüht sich um die Erhaltung des Bestehenden, leitet experimentelle Forschungen, wie die Herstellung von Wein nach antiken Verfahren und versucht, den allgemeinen Besucherservice zu verbessern. Denn einen vollen Tag braucht man schon, um den weitläufigen Komplex mit seinen Thermen, Tempeln, Theatern und Villen zu besichtigen und zu entdecken.

Die Stadt offenbart ihren wahren Zauber erst, wenn man gedankenverloren durch die unkrautbewachsenen Pflasterstraßen wandert und seiner Phantasie dabei freien Lauf läßt. Mit ein wenig Glück stößt man dabei hier und da auch auf ein Graffito, das sich noch entziffern läßt.

"Und plötzlich merkt man hautnah", resümiert Signor Gallo, "daß sich die Träume, Ambitionen und Laster der Menschen seit damals gar nicht wesentlich geändert haben."