Crete Senesi: Die hügelige Region im Dreieck Montepulciano, Montalcino und Pienza gilt als Küche der Toskana

Wenn Ilario Nardi isst, geht das nicht ohne Geräusche. Erst schmatzt er Pasta, natürlich handgemacht von Mamma. Dann den Teller mit Schinken und Brot, alles aus eigener Herstellung. Danach Salat aus dem eigenen Garten. Schließlich Rindfleischscheiben in Öl, von Tieren, die er selbst großgezogen und eigenhändig geschlachtet hat. Zum Abschluss Mandelkuchen, nach uraltem Familienrezept gebacken. Dazu gibt es Wasser, Wein, Kaffee und Grappa, Marke Eigenbau.

So geht das jeden Tag. Ilario hat die Provinz Toskana selten, Italien noch nie verlassen. Er steht im sechsten Lebensjahrzehnt, ist ziemlich gerundet und gießt noch mal Wein nach: "Buon vino fa buon sangue" - guter Wein schafft gutes Blut. Alle am Tisch grinsen. Der ist zehn Meter lang, daran sitzen zur Mittagszeit alle zwölf Familienmitglieder unterm Marienbild und dem Fernsehgerät. Das ist Ilarios Welt im Flecken Contignano an der Via La Vittoria nach Pienza in der Crete Senesi. Tagsüber ackern Ilario und seine Brüder hart, auch am Wochenende dreht sich die Mühle von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Erholung findet er am Esstisch. Ilario streicht sich den Bauch und sagt, er sei glücklich.

Familie Nardi ist eine der letzten Bauernfamilien in der Toskana, die als Selbstversorger leben. Im Stall stehen 60 Kühe, in der Scheune mehrere Traktoren. Die Ansprüche der Familie sind bescheiden bei recht gutem Einkommen. Den "Torre Tarugi", einen mittelalterlichen Wachtturm zwischen wogenden Feldern, hat sie restauriert und vermietet darin zwei Apartments für Touristen.

Landschaftlich entspricht dieser Teil der Toskana nicht dem lieblichen Klischee. Die Crete Senesi hügeln, buckeln, wellen sich. Crete kommt von "creta", Kreide. Seit dem 14. Jahrhundert war diese Region schlimmem Raubbau ausgesetzt, Wälder wurden abgeholzt, der Regen schwemmte viel fruchtbaren Boden weg. Aber längst hat Aufforstung die Crete in eine Waldlandschaft verwandelt und das ökologische Gleichgewicht wieder hergestellt.

Die Region ist geprägt von Getreidefeldern, Weinbergen, Olivenhainen, Zypressen, dunkelgrün schimmernden Sträuchern und terrakottafarbenen Bauernhöfen. Kulinarisch ist die Ecke eine Wucht wie die Steinschläge, die manchmal Dörfer heimsuchen. In Töpfen und auf Tellern gibt es alles, was die italienische Küche hervorbringt, und von allem noch ein bisschen mehr.

Größte Stadt der Region ist Montepulciano, ein Häusergewirr auf einem 600 Meter hohen Tuffsteinberg. Von Mons Politianus aus, wie die Stadt in römischer Zeit hieß, grast der Blick die sich weit erstreckenden Täler der Chiana und der Orcia bis zum Monte Amiata ab, mit 1738 Metern höchste Erhebung der Toskana, ein erloschener Vulkan.

Montepulciano hat sein mittelalterliches Stadtbild authentisch konserviert. Kurvige Gassen, kleine Plätze, Kirchen, Paläste, Tore und ganz oben die Piazza Grande, ein Traum von einem Stadtplatz. Der dreischiffige Dom mit Vierungskuppel und Seitenkapellen nimmt viel Platz ein. Dazu an der erstaunlich breiten Hauptgasse ein kolossaler Palazzo neben dem anderen. Von der travertingefassten Renaissancekrone der Piazza Grande aus sieht man zwei Kilometer südwestlich die goldgelb glänzende Wallfahrtskirche Madonna di San Biagio im Hügelmeer schwimmen. Sie wurde im 16. Jahrhundert auf die grüne Wiese gesetzt.

Abends bitten die Poliziani ihre Gäste zu Tisch in mit Fässern vollgestopfte Katakomben. Wer essen und trinken will wie Einheimische, muss ein wenig hinausfahren nach Chianciano, wo in einem alten Kloster die Fattoria Pulcino liegt. Die Keller des Hauses sind 3000 Jahre alt und wurden von Etruskern gebaut. Im Saal mit Holzdecken und wuchtigen Möbeln gibt es Fleisch ohne Ende - nur beste Stücke. Gebratene und gut gewürzte Würstchen. Oder das Fiorentina di Vitellone, das beste Filet vom weißen Rind.

Pienza ist ästhetischer Höhepunkt der Crete Senesi. Nach dem Wirrwarr Montepulcianos folgt hier öffentlicher Raum in geometrischer Ordnung. Dem größten Sohn der Stadt - Dichter und Humanist Enea Silvio Piccolomini - gelang es im 15. Jahrhundert, als Pius II. den Papstthron zu besteigen. Dass er ein machtbewusster Taktiker war und sich Mätressen hielt, wird heute in Rom nicht mehr gern gehört. Pienza verdankt dem Mann seinen Aufstieg. In nur fünf Jahren wurde die Stadt im Stil der Renaissance modernisiert: Kathedrale und Paläste umrahmen seitdem pompös die zentrale Piazza.

Sonntag in Pienza: Ausgehtag - und Messe. Familie Nardi ist mit einer Flotte kleiner Fiats gekommen. Ilario vorneweg grüßt wie aufgezogen. Gegenüber der Kathedrale das "Caffe la Posta". Dort folgt nach der Pflicht die Kür, mit Grappa und Rotwein.

Der Rote kommt aus Montalcino und heißt Brunello. Der Spitzenwein, mit der höchsten Qualitätsmarke Italiens ausgezeichnet, entsteht aus Trauben, die sich auf dem ton-, kies- und kalkhaltigen Boden des Ostrands der Toskana besonders prall entwickeln. Vier Jahre lang reift der granatrote Saft in Fässern aus Eichen- und Kastanienholz. Am stilvollsten verkostet man diesen Tropfen im schönsten Kaffeehaus der Crete, dem "Caffe Fiaschetteria Italiana".

Montalcino mit seinen fünf Stadttoren, der spätmittelalterlichen Festung, den stolzen Kirchen, Weinhandlungen und Probierstuben ist herrlich verschlafen. Zur Siesta ist die schöne Hauptstraße, die sich am Palazzo Comunale mit seinem schlanken Glockenturm gabelt, verwaist. Wo die Straße in Richtung Rom führt, geht es zur "Fattoria dei Barbi", deren Besitzer Giovanni Guerrini auch eine Taverne unterhält. Selbst verwöhnte Römer und Turiner reisen an, um Montalcineser Bohnensuppe mit rohen Zwiebeln zu löffeln.

Das geschmorte Hühnchen hat durch zahlreiche Gewürze intensiven Geschmack, das Kaninchen wird in teurem Brunello gesotten, das Perlhuhn ist gefüllt mit gehacktem Gemüse, und auf dem Grill wird Schweinefleisch über Holzkohle geröstet. Eine Kompanie von Frauen mit Gummischürzen stellt den Pecorini her, den Käse mit dem unvergleichlichen Geschmack. In riesigen Bottichen wird die Milch pasteurisiert und mit einer Substanz aus dem Magen der Lämmer und von ausgepressten Artischocken angereichert. Der Käse reift 20 Tage, wird täglich gewaschen, mit Öl und Holzasche bestrichen und zum Schluss noch für fünf Monate gelagert, bevor er zum Schlemmen auf den Tisch kommt.

Der viel zitierten "Toskana-Fraktion", die meist nur bis zur Höhe von Siena siedelt, entgeht viel, wenn sie sich den Weg Richtung Süden schenkt.