Sizilien ist eine Schatzkammer der Geschichte. Ob Römer, Phönizier, Griechen oder Araber - fast alle alten Kulturen der Region hinterließen hier ihre Spuren.

Der Felsklotz liegt da, als hätte ihn Gott bei der Erschaffung der Welt übersehen: 300 Meter hoch reckt er sich an der Nordküste Siziliens in den Himmel. Ein gigantischer Kalkblock, aus versteinerten Muscheln und Korallen vor Jahrmillionen aus dem Urmeer gewachsen. "Cephalos" (Kopf) nannten ihn die alten Griechen, weil seine Form sie an das Haupt eines schlafenden Riesen erinnerte. Und schon Odysseus fürchtete die Stürme, die um diesen Felskoloss tosten. Denn nur wenige Kilometer nördlich, zwischen den schroffen Klippen und Vulkankegeln der Liparischen Inseln, herrschte Äolos, der Gott der Winde. Ausgerechnet hier packte der Orkan die kleine Flotte.

Ganz plötzlich war er herangebraust gekommen. Er hob die kleinen Karavellen auf schäumende Gischtkämme und schleuderte sie gleich darauf in tiefe Wellentäler, dass die Masten splitterten.

Die Ritter an Bord waren erfahrene Seeleute. Ihre Vorfahren hatten einst die Meere beherrscht - als gefürchtete Wikinger, die auf ihren Drachenbooten bis nach Grönland und Nordamerika vorgedrungen waren. Jetzt nannten sie sich Normannen, Männer des Nordens. Und sie handelten in göttlicher Mission. Kein Geringerer als der Papst in Rom hatte sie auf diese Seereise geschickt. Ihr Auftrag: Sizilien von den Mauren zu befreien.

Die Legende lebt bis heute fort: Sollten sie den Sturm überleben, so schwor Graf Roger, Anführer der winzigen Kriegsflotte, dann wolle er dort, wo er gerettet würde, eine Kirche bauen lassen, so prächtig wie kein anderes Gotteshaus auf der Insel. Friedlich liegt die kleine Bucht, wo der Sturm die Schiffe an Land spülte, heute in der Sonne. Nur die gewaltigen Betonmauern an der Hafenmole geben einen Hinweis darauf, wie gefährlich das Mittelmeer hier manchmal sein kann.

Die Stadt des Normannenkönigs heißt Cefalu. Mächtig erhebt sich die Kathedrale über das Dächermeer. Wie eine Glucke ihre Küken, so scheint sie die Häuser zu bewachen, die sich um sie herum in den Schatten des mächtigen Monolithen ducken. Die Kirche ist nie fertig geworden; bis heute wird an ihr gebaut. Denn Graf Roger zog schon bald nach Palermo um, baute sich dort einen mächtigen Palast, von dem er - 1131 zum König ernannt - über die Insel an der italienischen Stiefelspitze regierte.

Cefalu geriet in Vergessenheit, hat dadurch aber sein mittelalterliches Bild bis heute bewahrt. Enge, arabisch anmutende Gassen ziehen sich vom Domplatz und vom Corso Ruggero hinab zum Hafen, gesäumt von Boutiquen und Andenkenläden, von Cafes und Fischrestaurants, die sich mit ihren Terrassen zum Meer öffnen.

Von Cefalu aus lassen sich alle wichtigen Inselziele bequem auf Tagesausflügen erreichen: Palermo und Taormina, das Tempeltal von Agrigento und die mittelalterliche Stadt Enna, auf einem Hochplateau genau im geografischen Zentrum Siziliens errichtet, der Nabel der Insel. Längst ist der Frühling auf Sizilien eingezogen. Mohn hat die Wiesen der Madonie, die sich mit ihren Bergen südlich von Palermo weit ins Inselinnere erstreckt, in rote Teppiche verwandelt.

Auf der "Piazza Wunderbar" in Taormina, für viele der schönste Platz Siziliens, genießen Urlauber die Frühlingssonne. Taormina muss sein. Die Stadt am Fuße des Ätna ist das Sahnehäubchen jeder Sizilienreise. Über den Corso Umberto, vorbei an Antiquitätenläden, Bars und Cafes, führt der Weg hinauf zu dem, was kein Besucher versäumen darf: zum griechischen Amphitheater.

Als Schülergruppen das Halbrund vor den Sitzreihen verlassen, ist auf einmal die Stille hörbar. Eidechsen huschen über die verwitterten Steine. Goldfarbenes Licht liegt über dem Ätna, dessen schneebedeckte Flanken im April noch bis weit in die Täler reichen können. Gemächlich pafft der alte Kettenraucher weiße Wölkchen, und in der Bucht von Naxos schaukeln bunte Fischerboote. Dichterfürst Goethe, auch im Jet-Zeitalter noch der bekannteste Sizilientourist, war von dieser Kulisse so hingerissen, dass er das Teatro Greco als "schönsten Platz der Welt" pries. Lag nicht falsch, der Herr Geheimrat.

Bei klarem Wetter sieht der Ätna, mit 3340 Meter höchster und aktivster Vulkan Europas, richtig einladend aus. In Serpentinen windet sich die Straße von Catania, Siziliens zweitgrößter Stadt, hinauf zum Refugio Sapienza auf 1900 Metern (Fahrtzeit mit Bus oder Auto: etwa drei bis vier Stunden). Es ist eine Tour durch sämtliche Vegetations- und Klimazonen der Insel, von den Badestränden bis in eine erstarrte Mondlandschaft aus Geröll und Lava, vorbei an Mandelbäumen, Orangen- und Zitrusplantagen.

Der gefürchtete Feuerberg ist zugleich ein Segen für Bauerndörfer zu seinen Füßen. Aus dem vulkanischen Material unzähliger Ausbrüche wurde fruchtbarer Boden für Kirschen und Wein, Pfirsiche und Aprikosen. Am Refugio Sapienza endet die Straße. Nun geht es nur noch mit der Seilbahn weiter. Oder mit Geländewagen. Doch schlagartig hat sich das Wetter geändert. Eiskalter Wind fegt vom Gipfel, ein plötzlicher Schneesturm verwandelt die von Kratern übersäte Szenerie in eine Winterlandschaft. Nichts geht mehr. Der Fahrer zuckt die Schultern: "Troppo pericoloso!" - viel zu gefährlich. Wie zur Bestätigung lässt der Ätna aus seinem Bauch ein dumpfes Grollen hören.

Kontrastprogramm in Palermo: Hafen- und Hauptstadt Siziliens, Mythos und Moloch zugleich, dessen Betonsilos sich wie Krakenarme immer tiefer in die Conca d'Oro fressen, die goldene Muschelbucht zwischen den Bergen von Monreale und dem Monte Pellegrino. In Palermo spiegelt sich noch die kulturelle Vielfalt, die Sizilien prägte: orientalisch anmutende Paläste neben barocken Kirchen, byzantinische Kapellen sind umgeben von arabischen Gärten.

Beinahe alle Völker des Mittelmeeres haben hier Spuren hinterlassen: Römer und Phönizier, Aragonesen und Neapolitaner. Vor allem aber die Araber. Sie machten Sizilien zum Einfallstor ihrer Kultur in Südeuropa. Wo Griechen und Römer noch die großen Eichenwälder für den Bau ihrer Kriegsflotten abgeholzt hatten, da pflanzten die Araber Zitronenbäume und Dattelpalmen, Zuckerrohr und Maulbeerbäume. Ihre Baumeister und Handwerker waren es, die mithalfen, die prächtigen Dome und Paläste zu errichten.

In Palermos Straßen quirlt das Leben. Restaurants und Cafebars sind überfüllt, in den Marktgassen drängen sich Touristen. Seit die Sanierungsgelder aus Rom nicht mehr in dunklen Kanälen verschwinden, strahlt die Stadt in neuem Glanz. Schon lange kann man wieder angstfrei durch Palermo bummeln. Die Herrschaft der Mafia ist gebrochen, Korruption und Kriminalität stark eingedämmt. "Stellen Sie sich mal vor", erzählt ein junges Paar aus Hamburg, "in einem Restaurant hatten wir einen Rucksack mit Kamera und allen Papieren vergessen. Wir waren noch nicht um die nächste Ecke, da wurde er uns vom Kellner im Dauerlauf hinterhergebracht."

Abstecher ins Landesinnere: Die Täler gleichen bunten Flickenteppichen, gesprenkelt mit Blumen in allen Farben. Gelber Ginster leuchtet über goldbraunen Steinmauern, der Duft von Rosmarin und wildem Fenchel liegt in der Luft. Hier, im Süden und Osten der Insel, in Selinunt und Segesta, haben die Griechen, die ersten Kolonisatoren Siziliens, vor drei Jahrtausenden ihre mächtigen Tempel zu Ehren der Götter gebaut - prächtiger, höher und vollkommener als im Mutterland. Agrigento, das antike Akragas, galt einst als "schönste Bleibe der Sterblichen". Und heute? Heute ist es ein mittelgroßes Provinznest mit der Skyline eines italienischen Manhattans. Die antiken Heiligtümer im Tempeltal dienen nur noch als schöne Fassade vor "moderner" Kulisse.