Südtirol: Bergerlebnis im Martelltal. Mit Schneeschuhen durch die Einsamkeit wandern ist gerade für Nicht-Skifahrer ideal, um im Winter in den Genuß der Natur zu kommen.

Hinter den Tannen und über den großen Lärchen steigt Morgen für Morgen in strahlendem Weiß die Zufallspitze empor. Der knapp 4000 Meter hohe Berg grüßt vor einem leuchtendblauen Himmel ins Fenster, und unten wartet schon das Frühstück auf uns: frische Vinschgauer, jene kräuterduftenden Roggenbrötchen, Meraner Speck, Käse, hausgemachte Marmeladen und Müsli aus Dinkel und Apfel, den Josef Stieger, der Gastwirt, gerade frisch gerieben hat.

Das "Zufritthaus" liegt auf 1880 Meter Höhe mitten im Martelltal, das wiederum südwestlich vom größeren Vinschgau abzweigt. Von "Morta-Tal", Tal des Todes, stammt sein Name wohl: Der enge, dunkle Gebirgsgraben mit seinen Lawinen, Muren und Überschwemmungen war immer mehr ein Ort zum knappen Überleben als für ein freudvolles Dasein. Etwa 900 Einwohner verteilen sich heute im Grund und auf den Hängen und leben von der Milchwirtschaft, von einem Job im 50 Kilometer entfernten Meran oder seit ein paar Jahren auch von Blumenkohl, Radiccio und Erdbeeren, die auf bewässerten Feldern bis in den September noch auf einer Höhe von 1700 Metern wachsen. Touristen, die hierher kommen, haben es gern einsam. Lifte, Seilbahnen und alpinen Trubel gibt es nicht.

Vier Tage sind wir hier auf Schneeschuhen unterwegs. Die Schneeschuhe leihen wir im "Zufritthaus". Wer einigermaßen fit und beweglich ist, kann damit ohne besondere Vorbereitung losziehen. Zu lernen ist vorher aber noch der Umgang mit dem VS, dem "Verschütteten-Such-Gerät": Wie orten wir das Piepsen des Senders und kreisen die Position eines Lawinenopfers ein? Auch wenn wir ungefährliche Wege gehen: Schnee an steilen Hängen hat nun einmal die Tendenz, irgendwann zu Tale zu donnern.

Ranger Klaus Bliem holt uns ab. 41 Prozent des 135 000 Hektar großen Nationalparks Stilfser Joch liegen in der autonomen Provinz Südtirol, das Martelltal ist ein Teil davon. Im Yeti-Schritt marsch. Gleichmäßig stapfen wir bergan. Spechte trommeln, ein Kleiber pfeift, die Kiefern duften. Zwischen dicken, knorrigen Stämmen machen wir Halt. Es sind Lärchen, mit einem Durchmesser von über einem Meter. "So an die 500 Jahre haben sie auf dem Buckel", sagt Klaus Bliem. Von manchen Kiefern baumelt neongrünes Gespinst: "Im Sud der Wolfsflechte haben unsere Vorfahren Fleisch gekocht und damit die Wölfe vergiftet. Jetzt aber warnt einen der Tannenhäher!" Dieser Vogel macht sich außerordentlich verdient um die Wiederaufforstung der Hänge. Als vorsorgebewußter Geselle sammelt er im Sommer Kiefernsamen und versteckt sie unter der Erde. Selbst durch dicke Schneedecken wühlt er sich später zu seinen Vorratskammern durch. Aus dem, was liegenbleibt, keimen neue Kiefern.

Durch Bliems Fernglas erkennen wir weit oben ein paar Gemsen. Zwischen 70 und 100 Stück gibt es im Tal. "Nichts wird geschossen, der Winter regelt den Bestand. In manchen Jahren fallen 80 bis 90 Prozent des Nachwuchses aus. Übrig bleibt nichts, dafür sorgen Fuchs und Adler und der Bartgeier, der auch noch die Knochen knackt. Es ist das perfekte Recycling."

Weniger perfekt ist das Verhältnis der Bevölkerung zum Nationalpark. Er wurde 1935 von den Faschisten gegründet und war von Anfang an ein Symbol der gehaßten italienischen Herrschaft. Rom versuchte die Einheimischen durch allerhand Schikanen zur Abwanderung zu zwingen. 1983 verbot man gar die Jagd. Immerhin blieben die Kontrollen "italienisch" lasch, jeder Martelltaler sorgte weiterhin für seinen Braten im Topf. 1995 aber wurde die Aufsicht den Südtirolern übergeben - Bliem war der erste deutschsprachige Ranger -, und die guckten genauer hin. Gewildert wird aber trotzdem weiter. Die genauere Kontrolle des Jagdverbots hatte zur Folge, daß der Rotwildbestand und damit der Verbiß an Bäumen übermäßig anwuchs. Seit 2000 werden deshalb wieder vereinzelt Hirsche "entnommen".

Am nächsten Tag gehen wir Richtung Furkeleferner, vorbei an einem gefrorenen Wasserfall. Mittlerweile kennen wir die Vorteile des Schneeschuhgehens: Im Gegensatz zu Skiern nehmen sie es einem nicht krumm, wenn sie durch den Wald oder über Fels kratzen müssen. Das Kreuzband reißt man sich auf Schneeschuhen eher selten, lawinengefährdete Hänge meidet man von selbst, weil sie zu steil sind.

Nach einer Stunde gelangen wir zum Gletschertor, einer kleinen Säulenhalle aus Eis, und arbeiten uns auf dem Gletscher voran. Rund 200 Meter haben sich die Eisfelder hier oben während der letzten 20 Jahre zurückgezogen. Benedikt Viebahn, gelernter Geograph, stellt eine unerfreuliche Prognose: "Je höher ein Gletscher reicht, desto größer ist seine Überlebenschance. Die Gletscher der Ostalpen mit 3000 bis 4000 Metern werden wohl alle wegschmelzen." Ein letzter Anstieg über einen vereisten Hang, dann picknicken wir mit Blick ins Pejo-Tal auf der Furkelescharte.

Wir pflügen, schlittern und kugeln zurück ins Tal, vorbei an der Ruine des Hotel "Paradiso", einem Betonklotz in altrosa mitten im Wald. 1935 erbaut, erhielt es viel Beifall für das kühn geschwungene Pultdach und die fensterreiche Fassade. Verwöhnte Weltenbummler fanden Friseur, Casino und Sauna im Haus vor. 1943 besetzte die deutsche Wehrmacht das Gebäude und richtete eine Spionageschule ein. Ein Reeder aus Venedig kaufte das Anwesen 1952, erhöhte es um ein Stockwerk und ließ neu streichen, beendete aber die Arbeiten nie. Nun steht es seit einem halben Jahrhundert leer.

Von Tag zu Tag geht es sportlicher zu. 900 Höhenmeter erklimmen wir Schritt für Schritt, wir keuchen und knirschen die Steilhänge empor. Das ultimative Gespür für Schnee eignen wir uns in der Kürze der Zeit natürlich nicht an - aber ein paar Arten lernen wir zu unterscheiden. Da gibt es zum Beispiel den kristallinen Schwimmschnee, in dem der Fuß keinen Halt mehr findet. Auf Windharsch oder Glasharsch, wenn er fest genug ist, läßt sich dagegen mit Schneeschuhen prima gehen.

Am Großen Loch erreichen wir das Jöchel auf 2785 Meter Höhe. Unter uns das enge Tal, zur anderen Seite reicht der Blick hinaus in den sonnigen Vinschgau.

Am Sonntag morgen unternehmen wir einen letzten Abstecher ins Schneeparadies. Die Sonne hat heute große Kraft. Immer wieder brechen wir ein: knie-, hüft- und bauchnabeltief. Von allen Zweigen tropft es, auf dem Eis des Zufrittsees breiten sich Schmelzwasserlachen aus. Über Nacht ist es Frühling geworden. Aber der nächste Winter kommt bestimmt.