"Wind ist der Welle
Lieblicher Buhler;
Wind mischt vom Grund aus
Schäumende Wogen.
Seele des Menschen,
Wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen,
Wie gleichst du dem Wind!"

(Johann Wolfgang von Goethe)

N 10° 00' 00.00" / W 023° 00' 00.00". Kisten packen für die Container, die bald an Land gebracht werden. Nach 26 Tagen auf See nähern wir uns Mindelo. Noch laufen die wissenschaftlichen Arbeiten an Bord auf Hochtouren. Doch immer öfter denke ich auch an die Tage vor unserer Abfahrt, an die Straßen von Mindelo und die vielen Menschen, die ich dort getroffen habe.

Da war zum Beispiel Rodrigez. Sein ganzes Leben ist er zur See gefahren. 20 Jahre sogar für eine Lübecker Reederei. Als er zu alt wurde, um auf große Fahrt zu gehen, kehrte er in seine Heimat zurück und heuerte auf kleinen Fischerbooten an, die vor den Kap Verden ihren Fang einbrachten. Als er Ur-Ur-Großvater wurde, war er zu unbeweglich für die Arbeit auf einem Fischerboot. Nun sitzt Rodrigez in der Innenstadt von Mindelo und gibt Fremden Ratschläge, wo sie gut essen oder trinken können: Der Lobster mit Omelette schmeckt fünf Häuser entfernt am besten, und ich solle doch dringend den Rum von der Nachbarinsel probieren.

In Hamburg kennt er die alten Speicher noch aus einer Zeit, in der ein Geruch von Kaffee, Tee und Gewürzendurch die Gassen zog – eine Zeit ohne schicke HafenCity-Bauten und In-Cafés. Seinen Berichtenvon guten Freundinnen auf der Reeperbahn folgt der Tipp, wo in Mindelo die schönen Frauen zu finden sind und mehr als ein Kap Verdisches Lächeln verschenken. Mag sein, dass es nur um ein paar Escudos geht, die ich ihm am Ende gebe. Rodrigez schaut mich mit seinem faltigen Gesicht an und zeigt seine vernarbte Geschichte, eine Landkarte des Lebens in seinem Lächeln.

Unsere Vergangenheit ist oft eine Melange aus Abenteuern und den vermeintlich verpassten „One-Million-Dollar“-Chancen. Wahrscheinlich geht es Rodrigez ebenso.Für eine Suppe erzählt er seine Geschichten, vielleicht aber auch, weil er gerne Gesellschaft hat und sich auch an Land noch immer ein bisschen auf den schäumenden Wogen wähnt. Wäre ich enttäuscht, wenn ich seine wahre Geschichte fern der Seefahrerromantik kennen würde? Wer weiß, vielleicht treffe ich ihn wieder, in den Straßen von Mindelo, wenn unser Schiff am Montag in den Hafen eingelaufen ist und mich das Meer „an Land gespült“ hat.