Rücktritt: Matthias Platzeck gibt nach 146 Tagen das Amt des SPD-Vorsitzenden auf. Zwei Hörstürze und ein Nervenzusammenbruch: Platzeck zieht sich auf das Amt des Brandenburgischen Ministerpräsidenten zurück.

Berlin. Als Matthias Platzeck gestern mittag um 11.35 Uhr im Berliner Willy-Brandt-Haus vor die Mikrofone und Kameras trat, hatte er sich für die Mitleidsstrategie entschieden. Dies, erklärte der 52jährige mit mollgetönter Stimme, sei sein erster öffentlicher Auftritt nach dem Klinikaufenthalt, und daß er den SPD-Vorsitz "auf ärztlichen Rat" niederlege.

An solchen Tagen wirkt vieles symbolisch. In diesem Fall, daß die Stadtreinigung den Bürgersteig vor der Parteizentrale gerade jetzt fegte. Oder daß sein Nachfolger Kurt Beck eine Krawatte umgebunden hatte, die der von Matthias Platzeck zum Verwechseln ähnlich sah: rot mit hellblauen Streifen. Und natürlich erst recht der Parteislogan, der hinter dem scheidenden Vorsitzenden auf der Stellwand prangte und verkleinert sein Rednerpult schmückte: "Wir sichern Deutschlands Zukunft." Zum Sichern hat Matthias Platzeck ja gar keine Zeit gehabt. Gerade mal 146 Tage lang ist er Parteivorsitzender gewesen. Das ist SPD-Kurzstrecken-Rekord. Selbst ein Björn Engholm hat zwei Jahre durchgehalten und Franz Müntefering immerhin zwanzig Monate.

Um seinen plötzlichen Rücktritt zu legitimieren, hat Matthias Platzeck die Chronik seiner Krankheit aufgeblättert. Nach dem Motto: Seht her, es ging nicht anders! In Kürze ging der Bericht so: erster Hörsturz im Januar ("Ich habe ihn nicht ernst genommen"), "Kreislauf- und Nervenzusammenbruch" am 11. Februar ("Ich habe sieben, acht Tage gebraucht, bis wieder alles richtig tickte"), zweiter Hörsturz am 29. März ("Mit erheblichem Verlust des Hörvermögens"). Fazit: "Es hätte keinen Sinn gemacht, weiter gegen die Wand zu laufen."

Platzeck mag das für die richtige Strategie gehalten haben, aber als Kronprinz von irgend jemandem kann er seit gestern nicht mehr gelten. Mit dem Stichwort "Nervenzusammenbruch" hat er sich endgültig auf den Rückweg in die Provinz gemacht. Dahin, wo er seit vier Jahren Ministerpräsident ist; und wo die große Koalition, die bei der Landtagswahl 2004 bestätigt wurde, so angenehm geräuschlos funktioniert. Als Kronprinz hat Matthias Platzeck ausgedient. Einen, der mal einen Nervenzusammenbruch gehabt hat, macht keine Partei zum Kanzler.

Und als Anwärter fürs Kanzleramt hatte er im November 2005 ja gegolten. Dieser "wirklich tolle Bursche", den Gerhard Schröder zweimal in sein Kabinett hatte holen wollen und der ihm zweimal einen Korb gegeben hatte. Als Matthias Platzeck am 15. November in Karlsruhe mit dem Sensationsergebnis von 99,4 Prozent zum neuen SPD-Vorsitzenden gewählt worden war, glaubte der eine oder andere Beobachter zwar ein "Angstschmusen in der SPD" erkannt zu haben ("Frankfurter Allgemeine Zeitung"). Aber die meisten hatten doch gemeint, der Potsdamer sei nun "der natürliche nächste Kanzlerkandidat der SPD" ("Süddeutsche Zeitung"). Daß der Mann aus dem Osten, der zudem ohne eigene Lobby antrat, überschätzt oder überfordert sein könnte, hat damals kaum einer zu äußern gewagt. Und Platzeck selbst? Der hat die Delegierten mit dem Ratschlag erheitert, den ihm sein Vater zehn Jahre zuvor gegeben hatte. "Wenn du in eine Partei eintrittst, versuche ihr Vorsitzender zu werden . . ."

Gestern war ein böser Tag für Platzeck. Man hat es ihm deutlich angesehen. Breitbeinig hat er sich hinter dem Rednerpult verankert, von der betonten Lässigkeit, die ihn zu Hause, im Brandenburgischen, immer umgibt, war nichts mehr zu sehen. Die Krawatte, sonst locker auf halb acht, saß korrekt, ausnahmsweise war sogar der oberste Hemdknopf geschlossen. Da wirkte er wie ein geschlagener Ritter in seiner Rüstung.

Und dann kam doch noch der Augenblick, in dem er austeilte: Als ein Journalist ihn fragte, ob er denn vorhabe, Ministerpräsident in Brandenburg zu bleiben. Da hat Platzeck wütend zurückgeschnappt: "Ich hab' das vorhin gesagt: Ja!" Und in diesem Moment war die mitleidheischende Pose dahin. Und da fiel einem ein, daß sich Matthias Platzeck ja auch ganz anders hätte entscheiden können: gegen Brandenburg und für Berlin. Und im nächsten Augenblick dachte man sich, daß der Arzt seinem Patienten etwas von "Kürzertreten" geraten haben mag, aber vermutlich doch nicht: "Geben Sie Ihr Amt als SPD-Bundesvorsitzender auf!"

Platzeck selbst hat gestern bekannt, mit Kurt Beck schon länger im Gespräch über den möglichen Rückzug aus Berlin gewesen zu sein. Vor oder nach dem Nervenzusammenbruch? Man weiß es nicht. Tatsache ist, daß irgendwann um die Jahreswende erste Kritik laut geworden ist an Platzecks Parteiführung.

Aber gestern haben sich erst mal alle beeilt, dem Scheidenden ihre Kränze zu winden. Allen voran die Parteifreunde. "Das war wirklich, wie wenn man den Unfall eines nahen Angehörigen erlebt und Abschied nehmen muß von einer Hoffnung, auf die man Großes gesetzt hatte", verkündete Bayerns SPD-Chef Ludwig Stiegler. Davor hatte Platzecks kommissarischer Nachfolger Kurt Beck schon seinen Anspruch auf die nächste SPD-Kanzlerkandidatur angemeldet.