HAMBURG. Über den überraschenden Rücktritt Matthias Platzecks als SPD-Chef sprach das Abendblatt mit dem Göttinger Parteienforscher Professor Franz Walter:

ABENDBLATT: Was bedeutet dieser Schritt für die SPD?

FRANZ WALTER: Es ist nicht das gleiche wie der Rücktritt von Willy Brandt, dafür war Matthias Platzeck zu kurz im Amt. Auffallend ist, daß sich seit 1987 die Rücktritte der SPD-Parteichefs häufen. Das entwertet eine Partei und das Amt ihres Vorsitzenden.

ABENDBLATT: Woran liegt das?

WALTER: Früher war die SPD eine Partei eines homogenen sozialen Lagers, mit einer großen Weltanschauung und kämpferischem Ethos. Parteivorsitzende konnten auf diesem emotionalen Loyalitätspolster lange aushalten und hatten einen historischen Auftrag zu erfüllen. Jetzt weiß die Partei nicht mehr so genau, wen und was sie vertritt. Es gibt nicht mehr die geschlossene Truppe mit einer Weltanschauung, sondern unzählige Ansichten und Lebensstile. Das spiegeln auch die Vorsitzenden wider.

ABENDBLATT: Wie weit gehen die Loyalität als Parteisoldat und der Respekt vor der historischen Aufgabe? Wo beginnt der Schutz der eigenen Person?

WALTER: Wie krank Herr Platzeck ist, kann ich nicht beurteilen. In einer gewissen Weise wird die SPD aber der FDP immer ähnlicher. Bei den Liberalen ist die Autonomie des Individuums das Entscheidende, der Ethos. Bei den Sozialdemokraten früher ging es um die historische Aufgabe. Seit der "Toskana-Fraktion" haben aber SPD-Granden wie Schröder oder Lafontaine immer behauptet, sie könnten sich auch etwas anderes vorstellen als Politik. Aber von einem Parteivorsitzenden und möglichen Regierungschef erwartet man Ernsthaftigkeit, Konstanz und Zähigkeit für diese Aufgaben.

ABENDBLATT: Hält es an der Parteispitze auch niemand mehr lange aus, weil es einen Schattenchef gibt? Im Falle Platzeck war das Franz Müntefering.

WALTER: Einen Schattenchef hat jeder Parteivorsitzende am Anfang, bei Willy Brandt war das Herbert Wehner. Irgendwann muß man sich aber dagegen durchsetzen, wenn man ein starker Parteivorsitzender sein will.

ABENDBLATT: Ist Kurt Beck jetzt der Richtige für die SPD?

WALTER: Es gibt niemanden in der SPD, der ein ähnliches Gewicht hätte wie Kurt Beck, nachdem er gerade in Rheinland-Pfalz einen sehr guten Wahlsieg eingefahren hat und dort mit absoluter Mehrheit regiert. Für Beck und die SPD ist es eine Chance, das Amt des Vorsitzenden wieder zu stärken. Aber als erfahrener Politiker muß er sich schnell von Müntefering befreien, da beide ähnliche Muster und Positionen präsentieren. Beck bräuchte als Komplementär-Partner eine junge Frau, die der Partei Ideen gibt.

ABENDBLATT: Denken Sie an Andrea Nahles?

WALTER: Die kommt auch aus Rheinland-Pfalz, und ich höre immer, daß die beiden sich mögen.

ABENDBLATT: Muß Kurt Beck jetzt ins Bundeskabinett oder reicht es, Ministerpräsident zu bleiben und damit auf anderer Ebene vernetzt zu sein?

WALTER: Die wichtigen Kabinettsposten sind besetzt. Vielleicht ist er bei einer Regierungsumbildung dabei. Vorerst wird er versuchen, mit seiner Autorität als Ministerpräsident ein sozialdemokratisches Profil zu schärfen.

ABENDBLATT: Was bedeutet der Platzeck-Rücktritt für die große Koalition?

WALTER: Es ist nicht mit einer riesengroßen Zäsur zu rechnen. Kurt Beck hat alle politischen Entwicklungen der letzten Zeit mitgetragen.