Gründungszweck der Atlantischen Allianz war der Kalte Krieg. Doch den Feind von damals gibt es längst nicht mehr.

Hamburg. Der kernige Lord Ismay, Minister im Kabinett von Winston Churchill, und von 1952 bis 1957 erster Generalsekretär der Nato, hatte keine Probleme, den eigentlichen Daseinszweck der Nordatlantischen Allianz auf den Punkt zu bringen: "Die Amerikaner drinnen zu halten, die Russen draußen und die Deutschen unten." Lord Ismay war übrigens maßgeblich an der Planung von "Operation Unthinkable" beteiligt - jenem "undenkbaren" Angriffsplan auf Churchills Initiative, der bereits im Juli 1945 die Eroberung der Sowjetunion durch amerikanische, britische und wiederbewaffnete deutsche Truppen vorsah. Erst 1998 wurde dieses streng geheime Projekt publik gemacht.

Heute hat die Nato hat als bloßes Verteidigungsbündnis gegen die Panzerarmeen des Warschauer Paktes ausgedient - der Feind ist der Allianz abhandengekommen. Aber wozu dient sie dann noch?

Teilweise - vor allem in den Augen konservativer Atlantiker in den USA - zieht das Bündnis seine Daseinsberechtigung aus dem machtpolitischen Wiedererwachen Russlands. Vor allem der frühere russische Präsident und jetzige Ministerpräsident Wladimir Putin lenkte erhebliche Ressourcen in die Restaurierung der arg vernachlässigten und teilweise bereits desolaten Wehr. Russlands Militärmacht ist auch derzeit nur ein Schatten des einstigen sowjetischen Goliaths, aber Moskau arbeitet daran, mit Washington wieder auf Augenhöhe zu kommen.

Das Vordringen der Nato bis vor die Haustür der Russen und auch die geplante Stationierung eines US-Raketenabwehrsystems in den einstigen Vasallenstaaten Tschechien und Polen werden in Moskau als offensive Akte wahrgenommen. Im Westen wiederum sieht man die betrübliche russische Menschenrechtslage sowie den rücksichtslos vorgetragenen Angriff auf Georgien mit Sorge.

Doch weder die Reparatur der russischen Wehr noch die rasante Aufrüstung der künftigen Supermacht China definieren derzeit die Kernziele der Nato - denn beide Staaten stellen auf mittlere Sicht keine Bedrohung der Allianz dar. Ganz im Gegensatz zum militanten Islam - der sich nichts weniger als die Vernichtung der westlichen Zivilisation auf seine grünen Fahnen geschrieben hat. Die Tausenden Toten, die mittlerweile auf das Konto von al-Qaida und ihrer zahlreichen Terror-Filialen gehen, der mörderische Angriff auf die USA im September 2001 und mehrere schwere Terrorakte auch in Europa legen davon ein blutiges Zeugnis ab. Verkürzt gesagt, ist der Islamismus der Nachfolger des Kommunismus als Feindbild der Atlantischen Allianz.

Doch mit mechanisierten Massenverbänden ist in einem asymmetrischen Krieg wenig auszurichten - die Nato ist in einem schmerzhaften Transformationsprozess. Hatte die Bundeswehr im Kalten Krieg beispielsweise noch mehr als 4000 Kampfpanzer, so sind es derzeit gerade noch 350.

Die Nato wächst, bläht sich dabei verwaltungstechnisch bedenklich auf und will sich zugleich als System kollektiver Sicherheit reformieren - ohne dass jedoch das Ziel dieser Reform klar definiert ist. Das strategische Konzept der Allianz für die Zukunft umfasst gegenwärtig nur eine Seite und bleibt im Ungefähren. Genaueres erhofft man sich vom Nato-Gipfel an diesem Wochenende.

Die Zielvorstellungen sind noch keineswegs synchronisiert: Die Amerikaner wünschen sich einen militärischen Schnellbaukasten, aus dem sie bei Bedarf Module zusammenstellen können, um überall auf dem Globus westliche Werte offensiv verteidigen zu können. Ob in Afghanistan oder notfalls im Iran. "Ich sehe keine globale Nato", hat Angela Merkel dazu gesagt.

Die Abneigung der Europäer gegenüber dem Konzept eines Weltpolizisten ist der eigentliche Hintergrund zur Entwicklung einer eigenen EU-Streitmacht. Bereits die zaghaften Anfänge werden von den USA als Konkurrenz zur Nato betrachtet. Doch die rudimentäre europäische Armee ist ohnehin noch auf längere Sicht auf amerikanische Aufklärungs- und Führungsmittel angewiesen. Bislang gibt es für Europa sicherheitspolitisch keine Alternative zum Nato-Bündnis.

Entscheidend für das weitere Schicksal der Allianz ist ein Erfolg in Afghanistan. Die Amerikaner unter Barack Obama haben sich dem europäischen Lösungsansatz - zivile Hilfe mit militärischer Stabilisierung zu vernetzen - angenähert. Doch der Schwerpunkt liegt auf dem Kampf gegen Taliban und al-Qaida.

Obama will die Entscheidung erzwingen, verstärkt massiv die US-Kampftruppen und erwartet auch von Europa entsprechend mehr. Angela Merkel und Nicolas Sarkozy haben jedoch schon abgewinkt. Die Nato steht vor ihrer größten Herausforderung: Wenn es ihr nicht gelingt, eine waffentechnisch weit unterlegene Schar von Guerilleros zu besiegen, wird die Strahlkraft des stärksten Militärbündnisses der Geschichte dann gebrochen sein.