EU-Chefdiplomat Javier Solana war früher Generalsekretär der Atlantischen Allianz. Im Abendblatt spricht er über neue Herausforderungen für das Bündnis.

Brüssel. Hamburger Abendblatt:

Die Nato feiert an diesem Freitag auf ihrem Gipfel in Straßburg und Baden-Baden ihr 60. Jubiläum. Wird das Bündnis weitere 60 Jahre überstehen, Herr Solana?

Javier Solana:

Es ist schwer zu sagen, wie die Welt in 60 Jahren aussehen wird. Sie wird sicherlich eine ganz andere sein. Aber es gibt eine grundlegende Verbindung zwischen der Europäischen Union und den USA in Fragen der Sicherheit. Ich denke, dass die Nato weiter existieren und auch eine wichtige Rolle spielen wird.



Abendblatt:

Als Weltpolizist?

Solana:

Nein. Das ist die Nato heute nicht, und das wird sie niemals sein. Ich denke auch nicht, dass wir einen Weltpolizisten brauchen. Die Welt in 60 Jahren wird - hoffentlich - eine Welt der Kooperation sein. Einige Schwellenländer werden viel wichtiger sein als heute. Wir werden mit dem Rest der Welt anders umgehen müssen, als wir es heute tun. Rücksichtsvoller.



Abendblatt:

Die Pläne der USA, Raketen in Polen und Tschechien zu stationieren, haben die Beziehungen zu Russland erheblich verschlechtert. Sollte Präsident Obama das Vorhaben seines Vorgängers Bush aufgeben?

Solana:

Das ist keine Operation, die gegen Russland gerichtet ist. Es geht um Staaten, die möglicherweise das europäische Territorium bedrohen. Ich bin dafür, Russland in die Raketenabwehr einzubeziehen. Das ist auch möglich.



Abendblatt:

Die Nato dehnt sich nach Osten aus, zuletzt sind Kroatien und Albanien beigetreten. Können Sie sich vorstellen, dass irgendwann auch Russland aufgenommen wird?

Solana:

Ich bin sicher, dass die Zusammenarbeit zwischen der Nato und Russland sehr viel enger werden wird, als sie heute ist. Aber ich denke nicht, dass Russland jemals Mitglied der Nato werden will.



Abendblatt:

Der größte Einsatz der Allianz ist der in Afghanistan. Die Amerikaner schicken zusätzlich 17 000 Soldaten an den Hindukusch. Verfolgt Barack Obama die richtige Strategie?

Solana:

Die Europäer haben immer gesagt, dass wir eine umfassende Strategie für Afghanistan brauchen - militärisch, politisch und wirtschaftlich. Wir haben auch gesagt, dass wir andere Länder in der Region beteiligen müssen. Es ist gut, dass sich diese Überlegungen in den amerikanischen Planungen wiederfinden.



Abendblatt:

Welchen Beitrag kann Europa, kann Deutschland zusätzlich leisten?

Solana:

Ich denke, dass es für die Europäer jetzt nicht darum geht, mehr Soldaten nach Afghanistan zu schicken. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union stellen schon jetzt fast die Hälfte der Truppen - und die machen einen sehr guten Job. Es hat Verwundete gegeben, es hat Verluste gegeben. Wir leisten also unseren militärischen Beitrag. Außerdem bilden wir Polizisten aus. Im Zeitraum von 2002 bis 2010 investieren wir insgesamt zehn Milliarden Euro in den Wiederaufbau Afghanistans.



Abendblatt:

Die Mehrheit der Deutschen findet, dass die Bundeswehr am Hindukusch nichts verloren hat. Wie lange wird sie dort noch gebraucht?

Solana:

Schwer zu sagen. Wir haben einen umfassenden Ansatz, um Afghanistan zu stabilisieren. Das wird seine Zeit dauern. Aber mehr Sicherheit in Afghanistan dient auch unserer Sicherheit in Europa.



Abendblatt:

Ist der Krieg in Afghanistan überhaupt zu gewinnen?

Solana:

Das ist eine der größten Herausforderungen, vor denen die internationale Gemeinschaft steht. Aber der Krieg - wenn man von einem Krieg sprechen will - ist zu gewinnen. Wir können ein Afghanistan schaffen, das in der Lage ist, sich selbst zu regieren.



Abendblatt:

Amerikaner und Europäer wollen, dass der dänische Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen neuer Nato-Generalsekretär wird - doch die Türkei sperrt sich: Rasmussen habe sich nicht für die Mohammed-Karikaturen entschuldigt, die 2006 in einer dänischen Zeitung erschienen sind ...

Solana:

Die Entscheidung über den neuen Nato-Generalsekretär wird jetzt auf dem Gipfel oder später fallen. Solche Entscheidungen werden im Konsens getroffen, und ich hoffe sehr, dass ein Konsens gefunden wird. Der Premierminister von Dänemark ist eine hervorragende Persönlichkeit. Wenn er gewählt wird, wird er einen sehr guten Job als Nato-Generalsekretär machen.



Abendblatt:

Die Türkei will in die EU. Wird es jemals dazu kommen?

Solana:

Die Türkei ist Beitrittskandidat, darauf haben sich die Mitglieder der Europäischen Union verständigt. Die Verhandlungen über die einzelnen Kapitel schreiten voran. Ich sehe nichts, was gegen eine Aufnahme der Türkei in der EU spräche.



Abendblatt:

Bundeskanzlerin Merkel und ihre christlich-demokratische Partei wollen auf absehbare Zeit nur noch Kroatien aufnehmen ...

Solana:

Der Vertrag von Nizza, der immer noch gilt, wurde für eine EU mit 27 Mitgliedern verabschiedet. Wir brauchen den Vertrag von Lissabon, um die EU erweiterungsfähig zu machen. Ich hoffe, dass der Reformvertrag noch in diesem Jahr in allen Mitgliedstaaten ratifiziert wird und 2010 in Kraft treten kann.



Abendblatt:

Glauben Sie auch daran?

Solana:

Die EU wird mit dem Vertrag von Lissabon eine größere Rolle spielen in der Welt. Ich vertraue darauf, dass sich diese Erkenntnis in allen Mitgliedstaaten durchsetzt. Der Vertrag sollte eher gestern als morgen ratifiziert werden.



Abendblatt:

Die Woche der Gipfel endet am Sonntag in Prag, wo die Staats- und Regierungschefs der EU mit Barack Obama zusammenkommen. Was versprechen Sie sich von diesem Treffen?

Solana:

Es ist der erste Gipfel dieser Art mit Präsident Obama. Ich denke, er hat in seinen ersten Wochen die Energie, den Mut und die Entschlossenheit gezeigt, die wir jetzt brauchen. Wir haben eine Wirtschaftskrise, die wir lösen müssen. Hervorheben möchte ich allerdings etwas anderes: Wir müssen vorankommen im Kampf gegen den Klimawandel.



Abendblatt:

Was fordern Sie?

Solana:

Für uns Europäer steht das Thema ganz oben auf der Agenda. Für uns ist der Klimawandel eine Frage globaler Verantwortung, und wir wollen Vorreiter sein. Uns macht Hoffnung, dass Präsident Obama von der bisherigen Haltung der USA abgerückt ist. Beim Weltklimagipfel in Kopenhagen am Ende des Jahres möchte ich Verpflichtungen zur Verringerung der CO2-Emissionen sehen. In Prag müssen wir die Weichen dafür stellen.



Abendblatt:

Herr Solana, im Herbst endet Ihre Amtszeit. In keiner Region haben Sie so viele Gespräche geführt wie im Nahen Osten. Haben Sie Hoffnung, dass es in den kommenden Monaten zu Fortschritten im Friedensprozess kommen wird?

Solana:

Das wird von den Akteuren in der Region abhängen. Israel hat eine neue Regierung. Ich erwarte, dass sie die Arbeit an einer Zwei-Staaten-Lösung fortsetzt. Das erwarten auch die meisten Menschen in Israel. Das ist ein Muss.