Neapel hat sich mit Erfolg von seinem schlechten Ruf befreit und präsentiert seine Altstadt als Weltkulturerbe.

Hoch sind die Häuser in der Stadt unter dem Vulkan. Sie säumen finstere Straßenschluchten, in die kein Sonnenstrahl fällt. Wäscheleinen spannen sich von schmalen Gitterbalkonen von einer Seite zur anderen. Treppenwege führen immer höher hinauf ins Gassengewirr.

Neapels Altstadt gruppiert sich um die Spaccanapoli, jene drei Kilometer lange, gerade Gasse durch das historische Zentrum. Hier herrscht schönstes Tohuwabohu. Händler verkaufen Kuriositäten, Trödel, Meeresgetier. Antiquitätenläden locken mit alten Gemälden in Goldrahmen und Madonnen-Statuen. Auf der Piazza San Domenico Maggiore hocken Punks zu Füßen der Pestsäule, die an die verheerende Epidemie von 1656 erinnert. Neben dem Zeitungskiosk Blumenverkäuferinnen und die Sonnenschirme des "Cafe Scaturchio".

Der Filmregisseur Pier Paolo Pasolini hat die Neapolitaner einmal mit einem Indianerstamm verglichen, der es vorziehe auszusterben, anstatt die Regeln der modernen Zivilisation zu akzeptieren. "Neapel", sagt der neapolitanische Philosoph Sergio Benvenuto, "lebt und denkt immer unter Ausnahmebedingungen. Hier ist die Erde launisch, hysterisch, sie stößt Rauch aus und tritt um sich. Sie setzt Menschen voraus, die sie immer nur vorläufig bewohnen."

Die am dichtesten bevölkerte Stadt Europas hatte einen schlechten Ruf. Jahrzehntelang war sie zum Inbegriff von Chaos, Korruption, organisiertem Verbrechen und der neapolitanischen Mafia, der Camorra, geworden. Hemmungslose Bauspekulation und städtische Verwüstung waren die Folge. Erst in den 90er-Jahren gelang dem neuen Bürgermeister Antonio Bassolino ein rigoroser Umschwung. Seither trug die Stadterneuerung Früchte; Neapels Altstadt zählt seit 1995 zum Weltkulturerbe.

Erholsame Pausen im brodelnden Altstadtgewimmel bieten die zahlreichen Kirchen, allen voran die imposante Kathedrale mit den Gebeinen von San Gennaro, dem Schutzheiligen der Stadt. Dieser Heilige Januarius wird bei Gefahr durch Erdbeben oder Vulkanausbrüche zu Hilfe gerufen.

Auf der turbulenten Piazza del Ges Nuovo, wo eine üppig verzierte Mariensäule mit vergoldeter Madonna an der Spitze emporragt, steht die Jesuitenkirche Ges Nuovo mit einer eigenartig stachligen Fassade aus dem 16. Jahrhundert. Drinnen schweigende Andacht inmitten unerwartet barocker Pracht. Neapolitaner berühren die Hand und das Gewand einer bronzenen Statue und führen dann ihre Fingerspitzen zurück an ihren Mund, als könnten sie etwas von der Kraft der Figur auf sich selbst übertragen. Es ist die Statue des frommen Arztes Giuseppe Moscati, der 1987 von Papst Johannes Paul II. heilig gesprochen wurde.

Am anderen Ende des Platzes erhebt sich die gotische Santa Chiara mit dem größten Klosterkomplex Neapels. Dessen Hauptattraktion ist der Kloster-Kreuzgang um einen Innenhof mit kunstvoll gefliesten Gängen, Bänken und Säulen. Auf den farbigen Majoliken erblickt man stolze Segelschiffe, Burgfelsen und Türme am Ufer, idyllische ländliche Szenen und die von Fantasievögeln gezogene Kutsche einer Königin.

Neapels Geschichte ist wechselvoll: Die stolze Seehandelsstadt des Mittelalters geriet nacheinander unter die Herrschaft der Normannen, der Stauferkaiser, der angiovinischen Könige, des spanisch-habsburgischen Weltreiches sowie der Bourbonen-Könige und profitierte als königliche Residenzstadt. Abwärts ging es seit der Gründung des vereinigten Königreiches Italien 1861. Während die nördlichen Regionen wirtschaftlich aufblühten, verarmte der Mezzogiorno, der gesamte Süden.

Auf der Spur des königlichen Neapel stößt man nahe dem Hafen auf das Castel Nuovo, die Stadtburg aus dem 13. Jahrhundert mit markanten Rundtürmen und mächtigem Burgportal. Unweit befindet sich auf der halbkreisförmigen Monumentalpiazza del Plebiscito, die für Staatszeremonien und Militärparaden genutzt wurde, der Palazzo Reale, die ehemalige Königsresidenz. Und gleich daneben das Teatro San Carlo, einst das größte Opernhaus Europas. Schließlich imponiert die prachtvolle Galleria Umberto I., eine der großen überdachten Ladenstraßen des 19. Jahrhunderts. Heute gibt es hier allerdings nur noch wenige Geschäfte und Cafes.

Durch die Gassen des ehemaligen Fischerdorfes Santa Lucia geht es zum Meer hinunter. Von dem romantischen Hafen ist nicht viel übrig geblieben. Nur der Borgo Marinari am Fuß des gewaltigen Castel dell'Ovo auf einem Inselchen bewahrt noch den Charme alter Zeiten. Hier, direkt am Wasser mit Blick auf den idyllischen Yachthafen von Santa Lucia, lässt sich der Flaneur in einem der Fisch-Ristoranti nieder.

Kühl und erholsam ist es auf einem der Hausberge Neapels. Mit der City-Schienenseilbahn fährt man bequem in die oberen Viertel der Stadt und zum Vomero-Hügel. Nur bis zur mittelalterlichen Festung Castel Sant'Elmo auf der Spitze des Hügels heißt es Treppen steigen. Ein erfrischendes Lüftchen weht hier oben, fantastisch ist der Panoramablick über die Megalopolis zu Füßen und an den Hängen des Vesuv.

Ein Anblick, der auch beklommen macht: Hätten die Bewohner bei einem Vulkanausbruch eine Überlebenschance? Seit dem bisher letzten Ausbruch 1944 hat der Vesuv seine einst charakteristische Rauchfahne verloren. Ein Pfropfen aus verfestigtem Magma verstopft die Schlotöffnung. Darunter kann sich ein Gas-Magma-Gemisch zusammenbrauen und sich irgendwann in einer gewaltigen Explosion entladen. So wie im Jahr 79, als Pompeji, Herculaneum und Stabiae unter meterdicken Eruptionsschichten verschwanden.

"Der Berg schläft nur", sagen die Neapolitaner.