“Die Zeichnung überlebt . . .“ Bildzeugnisse von Häftlingen des KZ Neuengamme sind vom 11. Januar bis 11. Februar 2007 in der Rathausdiele zu sehen.

Sie zeichneten auf alles, was ihnen in die Hände kam: auf Formulare, Rückseiten von Bestellzetteln, Verpackungstüten, verstohlen abgerissene Papierfetzen und selten genug auch mal auf ein unbeschädigtes reines, weißes Blatt. Sie zeichneten unter hohem Risiko, entdeckt zu werden: topografische Skizzen der Lagerbaracken, Situationen bei den Arbeitseinsätzen, die Torturen und Erschießungen. Sie zeichneten aus Selbstbehauptung und Überlebenswillen, aber auch um das Ausmaß an erlebtem Leiden, menschlicher Erniedrigung und Vernichtung der Gefangenen dem Vertuschen und Vergessen zu entreißen.

Die meisten Häftlinge waren keine ausgebildeten Künstler. Doch sie griffen zum Stift, um loszuwerden und zugleich festzuhalten, was sie sehen oder selber erdulden mussten. Bereits die Ankunft im Konzentrationslager Neuengamme war für Zeichner wie Ágnes Lukacs, Hans Peter Særensen oder Viktor Glysing Jensen ein Riesenschock. Sie versuchten ihn beim Skizzieren zu bewältigten und gleichzeitig auf das Papier zu bannen. Über diese und die vielen anderen zeichnenden Häftlinge aus Dänemark, Norwegen, Frankreich, den Niederlanden und der Sowjetunion informiert die von Dr. Maike Bruhns kuratierte, in Kooperation von Gedenkstätte und Hamburger Bürgerschaft veranstaltete Ausstellung "Die Zeichnung überlebt . . . Bildzeugnisse von Häftlingen des KZ Neuengamme".

Nach den Herkunftsländern der Gefangenen geordnet, werden auch ihre Zeichnungen - Originale und öfter noch Reproduktionen aus Publikationen - auf Tafeln mit erläuternden Texten versehen an den sechs Säulen in der Rathausdiele präsentiert. Auch im Auftrag der Lager-SS sind Zeichnungen entstanden - in der Ausstellung dokumentiert am Beispiel von Willi Johe. Nicht alle Künstler mochten die Möglichkeit der Entlohnung durch zusätzliche Lebensmittel oder Zigaretten nutzen, doch sie verbesserte die Überlebenschancen in der Hungersituation der Häftlinge. Die meisten aber skizzierten und zeichneten aus eigener Initiative. Einige ergänzten und erweiterten die geretteten Blätter - nach 1945 oder auch erst Jahre später - aus der Erinnerung mit sorgfältig ausgeführten Bildern, zum Teil auch mit Texten wie Viktor Glysing Jensen.

Manche konnten sich erst nach der Befreiung durchringen, ihre Erlebnisse zeichnend zu verarbeiten, andere überhaupt nicht mehr. Carl Adolf Særensen, der im dänischen Polizeigefangenenlager Horseræd noch Skizzen angefertigt hatte, war nach der Zeit im KZ Neuengamme nicht mehr in der Lage, seine Eindrücke in Zeichnungen zu fassen.

Stilistisch fallen die Bildzeugnisse höchst unterschiedlich aus: Von der einfachen narrativen Naivität bei Jens Martin Særensen und den naturalistischen Milieuschilderungen von Paul Eduard Mahler reicht die Bandbreite bis zum Einsatz überhöhter Mittel und der Orientierung an der Karikatur wie bei Lars To (Odd Magnussen) oder Erik Preben Tanne. Mit den Techniken von Licht, Perspektive und Raum arbeiten natürlich die ausgebildeten Künstler, unter ihnen Ágnes Lukacs, Rene Baumer, Lazare Betrand, Thorwald M. Davidsen, Viktor Glysing Jensen und Ragnar Sörensen. Besonders die gemeinsame Unterbringung in einem gesonderten Lagerabschnitt vor der Rückführung durch das schwedische Rote Kreuz ermöglichte den skandinavischen Häftlingen kurz vor Kriegsende das Zeichnen.

Die authentischen Bilder und Skizzen aus Konzentrationslagern sind für die Kunstgeschichte Neuland, denn es geht um das Erfassen und Darstellen von Wirklichkeit in einem Ausnahmezustand - ohne allerdings die Allgemeingültigkeit und stilistische Größe eines Francisco de Goya, Otto Dix oder Max Beckmann zu erreichen, die in ihren Bildern und Zeichnungen auch Gewalt und Tod im Krieg thematisierten.

Zur Eröffnung der Ausstellung am 11. November sind Zeitzeugen eingeladen. Ágnes Lukacs aus Budapest wird erwartet, ebenso der Künstler Carl Adolf Sörensen und Erik Tanne. In einer Gesprächsrunde, moderiert von Gedenkstättenleiter Dr. Detlef Garbe, erzählen sie ab 18 Uhr von ihren Erlebnissen und den schwierigen Bedingungen, unter denen sie Kunst in der Lagersituation schufen.

Bei einer Vortragsreihe in der Rathauspassage werden außerdem einzelne Künstler-persönlichkeiten vorgestellt, ihr Werk und Leben gewürdigt. Rainer Fröbe spricht über Rene Baumer (25.1., 18 Uhr), Dr. Maike Bruhns über Viktor Glysing Jensen (1.2., 18 Uhr) und Christiane Hess über Lazare Bertrand (6.2., 18 Uhr).

Allgemeiner mit "Kunst im Konzentrationslager?" beschäftigen sich in ihren Redebeiträgen Professor Christoph Daxelmüller (18.1., 18 Uhr, Rathaus) und Christiane Hess bei einer Führung in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme (28.1., 14 Uhr, Treffpunkt: Haupteingang).

Nicht nur als zeitgeschichtliche Quellen bilden die Zeichnungen - vor allem im Kontext und als Ergänzung von überlieferten Häftlingsberichten - ein wertvolles Zeugnis. In den Häftlingsportäts - den spontan skizzierten Charakterköpfen bei Per Ulrich, den ganzfigurigen Bildern Lazare Bertrands oder Wladimir Petrows Versuchen, Persönlichkeiten in ihrer Individualität mit dem Stift festzuhalten - ist es gelungen, die SS-Taktik zu unterlaufen, den Einzelnen über den Tod hinaus zu vernichten, ihn in der Menge der namenlosen Opfer für immer auszulöschen.

Die Künstler behaupteten sich unter Lebensgefahr gegen Terror und Übermacht. Sie halten in ihren Werken - wie immer sie auch stilistisch ausfielen oder künstlerisch zu werten sein mögen - die Erinnerung an den ermordeten Einzelnen und seine menschliche Würde wach und lebendig.

  • KZ-Gedenkstätte Neuengamme , Ausstellung in der Rathausdiele, Rathausmarkt, 11.1.-11.2.07, (Bus-, U-Bahn Jungfernstieg), mo-fr 10-18 Uhr, sa/ so 10-13 Uhr, freier Eintritt. Katalog 19,90 Euro .