Leonardo da Vinci, Öl und Tempera auf Mauerwerk, 1495-1497

Was ist ein Lieblingskunstwerk? Es fällt mir schwer, diese Frage zu beantworten, weil es zu verschiedenen Zeiten natürlich verschiedene Kunstwerke gibt, die mich in besonderer Weise ansprechen, die mich berühren, die eine Erfahrung vertiefen oder auch einen neuen Gedanken greifbar machen. Ein Kunstwerk ist meines Erachtens dann gut, wenn es den Betrachter erschüttern kann, wenn es etwas in mir auslöst, mich aus eingetretenen Pfaden löst. Und das ist in vielerlei Formen möglich, auch über die bildende Kunst hinaus. Mich berühren immer wieder die Kompositionen Johann Sebastian Bachs. Ebenso greife ich immer wieder zu den Texten Rainer Maria Rilkes.

Unter den Werken der bildenden Kunst hat mich in letzter Zeit besonders das Letzte Abendmahl von Leonardo da Vinci beeindruckt. Ich konnte das Bild bei einer Reise nach Mailand im Refektorium von Santa Maria delle Grazie vor knapp zwei Jahren zum ersten Mal im Original sehen. Leonardo da Vinci stellt Jesus dar, der inmitten seiner Jünger sitzt. Aber eigentlich ist er alleine. Die Apostel rechts und links von ihm sind beschäftigt. Sie reden miteinander, untereinander, sie sind durcheinander und verstehen nicht, was geschieht. Im Grunde sitzt Jesus unverstanden, einsam und verlassen in der Mitte. Er schaut in die Weite. Er sieht den Willen des Vaters. Die Jünger sind dagegen ratlos und desorientiert. Man könnte sagen: Die Kirche diskutiert, aber erkennt nicht "die Stunde", wo es um Leben und Tod geht. Eine geistliche "Kirchenkritik", die zur Umkehr auffordert. Mich hat diese Interpretation Leonardos vom Letzten Abendmahl erschüttert, und sie beschäftigt mich auch jetzt noch: Nie dürfen wir Jesus und seine Ausrichtung auf den Vater aus dem Auge verlieren.