Jh., Liebfrauenkirche, Oberwesel

Glücksfälle sind sehr unterschiedlich. Für mich ist es ein Glück, im Licht des Oberweseler Goldaltars aufgewachsen zu sein. Dieser mittelalterliche Flügelaltar erzählt die Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen. Alle Figuren, die aus den biblischen Geschichten ebenso wie die Heiligen, Maria und Jesus, sind in Gold gefasst. Der gesamte Hintergrund und das umgebende Schnitzwerk - Gold wohin man sieht. Herrlichkeit, Erlösung, Seligkeit - das war für die Künstler nur durch Gold auszusagen. Und dieser Glanz begleitet die Menschen in der Pfarrei durchs Jahr, liegt über ihrem täglichen Leben, über ihrem Glauben. Aber für die Menschen in der Pfarrei zeigt der Altar noch ein anderes Gesicht. Im Advent und in der Fastenzeit werden nämlich die beiden Flügel geschlossen. Dann thront dort, wo ansonsten die Krönung Marias durch Christus zu sehen ist, ein schlichtes, grünes Astkreuz mit dem leidenden und sterbenden Jesus. Verborgen ist der Glanz. In Zeiten der Besinnung tritt die Not, das Leid des Menschen ungeschönt in den Blick. Wie eine moderne Installation differenziert das Kunstwerk: der Glanz des inwendigen Teiles ist Verheißung und Vollendung. Das Leben aber hat auch die andere Seite, die sich nicht wegleugnen lässt: Leid, Angst, Sterben und Tod.

Wer nicht nur kunsthistorisch interessiert ist, sondern mit seiner Seele dieses Meisterwerk betrachtet, findet in ihm - menschlich gesprochen - einen treuen Freund. Die größte Seligkeit wie das tiefste Leid haben in diesem Altar Platz, Gestalt und Ausdruck erhalten. Schmerz und Erlösung, Leid und Seligkeit - beides ist als lebendige Kunst präsent und beides darf auch beim Betrachter sein.