Psychiatrie: Medikamente, Alkohol oder Drogen - Millionen von Menschen in Deutschland sind abhängig. Individuelle Therapien können helfen, die Sucht zu besiegen

Täglich eine Flasche Schnaps, Beruhigungstabletten griffbereit in der Handtasche oder der Drogenabhängige, der sich im Gebüsch die Spritze setzt - Sucht hat viele Gesichter, doch eins ist allen gemeinsam: "Sie wird verborgen, von Kollegen, Freunden und Angehörigen gedeckt", sagt Dr. Klaus Behrendt, Chefarzt der Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen im Klinikum Nord Ochsenzoll. Deshalb ist es auch schwierig, die Zahl der Abhängigen zu ermitteln. "Nach Schätzungen sind allein in Deutschland 1,6 Millionen Menschen alkoholkrank, und mehr als neun Millionen betreiben schädlichen Alkoholkonsum", sagt der Psychiater.

Dabei ist der Weg in die Sucht oft schleichend. Behrendt beschreibt das anhand einer typischen Entwicklung einer Medikamentenabhängigkeit: "Jemand leidet unter Unruhe oder Schlafstörungen, geht zum Arzt und bekommt ein Beruhigungsmittel verschrieben, das bei längerem Gebrauch abhängig macht. Obwohl dieses Medikament nur als kurzfristige Unterstützung gedacht war, holt sich der Patient wieder ein Rezept bei der Sprechstundenhilfe, die von einer fortlaufenden Verschreibung ausgeht. Und weil er feststellt, das er sich mit diesem Medikament gut fühlt, nimmt er es auch schon morgens, wenn er einen schwierigen Tag vor sich hat. Wenn der erhöhte Verbrauch auffällt, geht er zu mehreren Ärzten und beschafft sich so die fünffache Menge. Der Patient erfährt das Wohltuende dieses Mittels, geht unkritisch damit um und trägt die Bereitschaft in sich, abhängig zu werden", so Behrendt.

Eine solche genetisch verankerte Bereitschaft "gehört ohne Zweifel dazu, wenn sich eine Abhängigkeitserkrankung entwickelt". Außerdem beeinflussen bestimmte psychische und soziale Faktoren das Risiko, süchtig zu werden: "Ein in festen stabilen Bezügen aufwachsender Mensch ist eher vor einer Suchterkrankung geschützt als jemand, der ständige Wechsel von Schule und Bezugspersonen in früher Kindheit hinter sich hat. Und oft pfropft sich eine Suchterkrankung auf psychische Störungen auf. Ein Mensch mit einer schweren psychischen Störung, die mit innerer Unruhe und Depressionen einhergeht, wird eher Alkohol trinken, weil dieser entängstigend und beruhigend wirkt. Angststörungen und Depressionen sind die beiden wesentlichen psychischen Probleme bei Alkoholikern."

Erschwerend hinzu kommen soziale Probleme: "Jemand, der sozial den Boden unter den Füßen verloren hat, ist eher gefährdet, suchtkrank zu werden. Er kann auch schwerer aus der Suchtproblematik wieder aussteigen als jemand, der in stabilen sozialen Verhältnissen lebt. Die Aspekte Wohnung, Arbeit, Beziehungen sind Säulen der Identität. Je brüchiger diese sind, umso größer ist die Gefahr, dass jemand abhängig wird", so der Suchtexperte.

Was als abhängig gilt, ob von Alkohol, Medikamenten oder Drogen, wird nach einer internationalen Klassifikation definiert. "Von folgenden sechs Symptomen müssen im vergangenen Jahr mindestens drei aufgetreten sein", erklärt Behrendt: 1. der Zwang zu konsumieren, 2. das Nicht-Aufhören-Können, wenn man einmal mit dem Trinken angefangen hat, 3. die Entwicklung einer Toleranz, so dass der Süchtige für dieselbe Wirkung immer mehr braucht, 4. körperliche Entzugserscheinungen wie Zittern, Schwitzen, Schlafstörungen, 5. Einengung der Interessen auf den Suchtmittelkonsum, 6. Fortsetzen des Konsums trotz schädlicher Folgen, wie Lebererkrankung beim Alkoholiker, Verlust des Arbeitsplatzes oder die Zerstörung familiärer Beziehungen. "Menschen, die schädlichen Konsum betreiben, sind hingegen diejenigen, die so viel konsumieren, dass sie körperliche oder psychische Probleme bekommen, aber weitere Kriterien nicht erfüllen", so Behrendt.

Neben den Substanzen gibt es auch Verhaltensweisen, die mit Sucht in Zusammenhang gebracht werden. "Süchtiges Verhalten kann man in allen Formen wiederfinden: Es gibt Menschen, die zwanghaft spielen, kaufen, Extremsportarten betreiben oder im Internet surfen. Bei fast jedem Verhalten, das angenehme Gefühle vermittelt, kann es auch zum süchtigen Entgleisen kommen", sagt Behrendt.

So vielfältig wie die Auslöser einer Sucht sind auch die modernen Therapiemethoden: "Die Behandlung von Suchtkranken muss immer individuell sein. Das viele Jahre geltende Dogma in der Therapie, das nur die Abstinenz gelten ließ, ist gefallen, weil sich herausgestellt hat, dass viele Abhängige mit dieser Therapie nicht erreicht werden konnten, weil der Schritt aus der Sucht in die totale Abstinenz für sie zu groß war." Heute sprechen Suchtexperten von einer Zielhierarchie, einem abgestuften Plan, um Süchtigen zu helfen. Dabei geht es erstmal darum, die Betroffenen zu erreichen, ihr Überleben zu sichern und dann darum, sich in mehreren Stufen einem drogen-, alkohol- und medikamentenfreien Leben zu nähern.

Wenn jemand dazu bereit ist, steht eine stationäre Entgiftung an, die in Hamburg drei Wochen dauert. Bei Alkoholabhängigen wird der Entzug innerhalb von sieben bis zehn Tagen mit geeigneten Medikamenten so abgedämpft, dass der Patient ihn gut übersteht. In der verbleibenden Zeit des stationären Aufenthalts werden in einer Gruppentherapie Möglichkeiten des Betroffenen erörtert, mit seiner Sucht besser umzugehen, etwa eine ambulante Therapie oder der regelmäßige Besuch einer Selbsthilfegruppe, und entsprechende Maßnahmen eingeleitet. Zum Therapieteam gehören Sozialpädagogen, die dabei helfen, soziale Probleme wie Wohnungslosigkeit oder Schulden anzugehen. "Denn der Patient braucht als Antrieb, um aus der Sucht auszusteigen, die Aussicht auf eine positive Perspektive", betont Behrendt.