Psychiatrie: Kinder und Jugendliche mit Essstörungen finden Hilfe im Kinderkrankenhaus Wilhelmstift

Eine Scheibe Brot mit Käse zum Frühstück, ein paar Erbsen und eine Kartoffel zum Mittagessen? Das ist schon zu viel. Und um die "lästigen" Kalorien wieder loszuwerden, folgt danach erst mal ein ausgedehnter Dauerlauf. Ein Ritual, das für viele Mädchen mit einer Magersucht zur täglichen Gewohnheit wird. Denn die oberste Regel lautet: bloß nicht zunehmen. "Dieses Prinzip gilt auch noch, wenn die Patientinnen sich bereits in einem lebensbedrohlichen Zustand befinden. Denn sie fühlen sich nicht krank", sagt Dr. Kai-Uwe Nöhring, Chefarzt der Psychiatrie im Katholischen Kinderkrankenhaus Wilhelmstift.

In dieser Klinik im Hamburger Osten gibt es eine Station für Kinder und Jugendliche mit Essstörungen. Pro Jahr werden hier etwa 30 Patienten mit Essstörungen, wie etwa Magersucht, behandelt. Nach Angaben des Deutschen Institutes für Ernährungsmedizin leiden in Deutschland über 100 000 Menschen, vor allem Frauen, daran. Die meisten Mädchen, die zur Therapie ins Wilhelmstift kommen, sind zwölf bis 16 Jahre alt. "Aber die Altersgrenzen verschieben sich nach unten, wir haben jetzt auch schon Patientinnen, die erst elf Jahre alt sind", berichtet Nöhring.

Die Auslöser einer Anorexie sind vielfältig: "Neben genetischen Faktoren spielen familiäre Probleme und Krisen in der Pubertät eine wichtige Rolle. Hinzu kommen soziokulturelle Faktoren, wie das Schlankheitsideal in den westlichen Industrienationen, das fast einem Diktat gleichkommt", erklärt der Kinderpsychiater und beschreibt bestimmte Charaktereigenschaften, die er während seiner langjährigen Arbeit bei magersüchtigen Mädchen beobachtet hat: "Sie sind häufig sehr ehrgeizig und leistungsorientiert und kaum dazu fähig, auch mal die ,Seele baumeln zu lassen'. Dazu passt auch, dass sie sehr fürsorglich mit anderen Menschen umgehen, aber nicht mit sich selbst."

Die wichtigsten Anzeichen einer Anorexie sind Gewichtsabnahme und ein gestörtes Körperbild, bei dem die bereits stark abgemagerten Mädchen sich selbst immer noch als zu dick empfinden. "Doch oft dauert es sehr lange, bis die Krankheit auffällt, weil die Mädchen ihren Körper unter weiter Kleidung verbergen", berichtet Nöhring. Meist kommen sie erst in Behandlung, "wenn schon bedrohliche Gewichtszustände erreicht werden oder es zu einer ernsten Störung der Körperfunktionen gekommen ist". Dazu zählen vor allem Veränderungen im Salz- und Wasserhaushalt des Körpers. Die Haare fallen aus, die Regelblutung bleibt aus. Es kann zum Anschwellen der Beine kommen, zu Leberschwellungen und lebensgefährlicher Verlangsamung der Herzfrequenz.

"In solchen Fällen ist eine stationäre Behandlung unumgänglich, gegebenenfalls auch gegen den Willen der Patienten, meist zunächst auf einer pädiatrischen Station", so Nöhring, Im Wilhelmstift durchlaufen die Patienten ein Therapieprogramm, das 16 Wochen dauert. Ein wichtiges Ziel dabei ist, mit den Mädchen normales Essen einzuüben. Sie sollen 500 Gramm pro Woche zunehmen, das Gewicht wird zweimal pro Woche kontrolliert. In einem Stufenplan wird individuell geregelt, was täglich verzehrt werden muss. "Die Mädchen erhalten sechs Mahlzeiten am Tag, zunächst mit genau zugeteilten Portionen. Dabei ist Kalorienzählen tabu. Wir verfahren ganz altmodisch nach der Regel: Was auf den Tisch kommt, wird gegessen", erklärt der Kinderpsychiater. Wer nicht genug zunimmt, dem wird körperliche Schonung verordnet. Parallel zur Gewichtskontrolle findet eine Psychotherapie statt, einzeln oder in der Gruppe. Die Mädchen nehmen an einer Kunsttherapie teil und an einer Bewegungstherapie, bei der sie lernen sollen, zu entspannen und ihren Körper wieder besser wahrzunehmen.

Gegen Ende des Therapieprogramms wird den Mädchen immer mehr Selbstständigkeit eingeräumt. Unter Anleitung einer Diätassistentin lernen sie, Mahlzeiten in den richtigen Mengen zuzubereiten. Doch auch nach der Entlassung aus der Klinik ist noch weitere Behandlung nötig. "Entweder sie kommen zu uns in die ambulante Nachbetreuung, oder sie gehen für mehrere Jahre zu einer ambulanten Psychotherapie. Zudem gibt es noch die Möglichkeit, für ein Jahr in einer speziellen Wohngruppe zu leben", erklärt Nöhring.

Doch trotz intensiver Therapie ist die Krankheit bei vielen Patientinnen nicht heilbar. "Zwischen sechs und 18 Prozent sterben sogar daran. 50 Prozent werden geheilt. Bei 30 Prozent lässt sich eine Besserung erreichen", so Nöhring. Selbst, wenn das akute Leiden überwunden ist, kann Essen lebenslang ein Schwachpunkt bleiben, "so dass Konfliktsituationen immer wieder Gewichtsabnahmen zur Folge haben".