Was hätte Darwin wohl zu dieser These gesagt? Mit der Entwicklung des Menschen ist die Evolution zum Stillstand gekommen. Das behauptet der britische Genetiker Steve Jones. Stimmt das wirklich? Das Abendblatt hat einen Evolutionsbiologen dazu befragt.

Hamburger Abendblatt:

Herr Kutschera, der britische Genetiker Steve Jones vom University College of London behauptet, dass die Evolution des Menschen zum Stillstand gekommen sei. Stimmt das?

Prof. Ulrich Kutschera:

Die Aussage, dass die biologische Evolution des Menschen zum Stillstand gekommen ist, gilt in der Tat, aber nur für einige kleine Teile der Erde, wie die europäischen Länder, die USA oder auch Japan. Dort findet kaum noch jener Prozess statt, den Charles Darwin als Daseinswettbewerb oder natürliche Auslese bezeichnet hat. Vielmehr läuft dort eine Evolution im Rückwärtsgang ab - weil pro Generation mehr als 30 Prozent an Lebendgeburten fehlen, werden sich diese Menschengruppen selbst auslöschen, sofern dieser Trend anhält. In diesen Regionen ist also ein selbst verursachtes Aussterben absehbar.



Abendblatt:

Dann trifft der Stillstand der biologischen Evolution nur sehr kleine Populationen der menschlichen Art ...

Prof. Kutschera:

In der Tat. Etwa 90 Prozent der Menschen dieser Erde leben noch immer in einem naturnahen Zustand. Menschengruppen in Indien, Nepal oder Afrika sind immer noch den typischen Selektionsfaktoren wie Infektionen durch Bakterien oder Viren, Malaria, Hungersnöten oder gewaltigen Naturkatastrophen ausgesetzt. Dies bedeutet, dass dort nur jene Individuen überleben werden, die zufallsbedingt über ein entsprechendes Immunsystem verfügen, mehr Fettgewebe besitzen oder durch intelligente Maßnahmen den Naturkatastrophen entkommen können. Nur diese werden dann in ihren Nachkommen weiterleben.



Abendblatt:

Sofern diese überhaupt das Erwachsenenalter erreichen ...

Prof. Kutschera:

Die Gefahr, dass die Menschen dort aussterben, besteht angesichts der Geburtenraten nicht. In diesen Regionen wird ein Überschuss an Nachkommen geboren, so dass die genetische Variabilität, die erbliche Ungleichheit, einer Population hoch ist. Damit können die Selektionsmechanismen unter unterschiedlichsten Individuen auswählen. Die genetische Variabilität wird bei den Säugetieren - und auch der Mensch gehört dazu - übrigens maßgeblich durch die Männer erzeugt. Ein Grund dafür ist, dass sie entscheidend durch die Umgruppierung von Erbanlagen vor der Bildung der Ei- und Samenzellen befördert wird. Da Männer ihr Leben lang Spermien produzieren, ist die Fehlerquote - also die Mutationsrate - wesentlich größer als bei den Frauen. Bei ihnen werden alle Eizellen angelegt, bevor die Mädchen überhaupt geboren werden.



Abendblatt:

Selbst wenn die biologische Evolution in den Industriestaaten zum Erliegen gekommen ist, wie steht es um die kulturelle Evolution?

Prof. Kutschera:

Die sogenannte kulturelle Evolution basiert darauf, dass der Mensch Sprache entwickelte und Techniken schuf, um Wissen außerhalb seines eigenen Gehirns zu konservieren und für andere Artgenossen verfügbar zu machen. Das erlaubte den dauerhaften Austausch von Erfahrungen über Generationen hinweg und rund um den Globus. Die kulturelle Evolution nahm ihren Lauf im Zuge der Aufklärung, als sich die Künste und Wissenschaften vom Diktat der Philosophie des Aristoteles und kirchlicher Dogmen befreit hatten. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich die kulturelle Evolution in einem rasanten Tempo vollzogen, wie allein die Technikentwicklung zeigt.


Bezogen auf die vergangenen Jahrzehnte können wir die Auswirkungen der kulturellen Evolution vor allem auf dem Gebiet der Naturwissenschaften verfolgen. Allein auf dem Gebiet der Evolutionsbiologie haben wir einen kaum noch zu überschauenden Erkenntnisfortschritt zu verzeichnen. Das verdanken wir vor allem den Geldern, die insbesondere die USA in die Grundlagenforschung investieren.


Abendblatt:

Mit diesen Erkenntnissen, mit diesen rasanten Fortschritten in der Technik, hat sich der Mensch letztlich in einem Teil der Erde ja auch von der biologischen Evolution abgekoppelt. Welche Rolle spielt der Mensch im Rahmen der Evolution heute?

Prof. Kutschera:

Auch wenn er sich morphologisch, genauer in der Anatomie seines Skeletts, in den vergangenen Zehntausenden Jahren nur wenig verändert hat, wissen wir nicht, ob auch die intellektuelle Leistungsfähigkeit unserer in Afrika beheimateten Vorfahren schon so war wie heute. Eines ist aber unübersehbar: Der heutige Mensch ist die Spezies auf diesem Planeten, die die Evolution von Tieren und Pflanzen mitbestimmt. Durch die aktive Gestaltung von nahezu allen Lebensräumen werden Biotope verändert, Arten an den Rand des Aussterbens gebracht, neue Lebensräume für Arten geschaffen. Der Mensch bestimmt, wer überleben wird. Er legt heute fest, wie die Biosphäre in 100 Jahren aussehen wird. Das gab es in der Geschichte des Planeten Erde noch nie - diese Entwicklung ist das Produkt der kulturellen Evolution unserer Art.



Abendblatt:

Wohin kann diese uns noch führen?

Prof. Kutschera:

Wir wissen, dass die Erde eine begrenzte Lebenszeit besitzt. Auch aus diesem Grund denkt man beispielsweise in den USA darüber nach, in den kommenden 50 Jahren Menschen-Kolonien auf dem Mars zu errichten. Das wäre dann der Aufbruch in eine neue biologische Evolution unserer Spezies.



Im Januar 2009 erscheint Kutscheras Buch "Tatsache Evolution - Was Darwin nicht wissen konnte" (dtv).