60 Prozent erwarten, selbst betroffen zu sein. Offener Streit in der SPD. Kinderschützer warnen vor Verwahrlosung. Morgen debattiert der Bundestag.

Berlin. Die sozialen und wirtschaftlichen Probleme in Deutschland lösen bei immer mehr Bundesbürgern große Sorgen aus. In einer Emnid-Umfrage für den Sender N24 äußerten 91 Prozent der Befragten die Befürchtung, dass Deutschland verarmen wird.

Die größten Ängste haben junge Deutsche bis 29 Jahre: In dieser Altersgruppe erwarten 60 Prozent, dass sie persönlich von Armut betroffen sein werden. Von den über 50-Jährigen befürchten dies nur 33 Prozent. 84 Prozent sahen es als Aufgabe des Staates an, die Kluft zwischen Arm und Reich durch Gesetze und Steuern zu verringern.

Die von SPD-Chef Kurt Beck angestoßene Diskussion über eine neue "Unterschicht" in Deutschland hat in der Großen Koalition und auch in der SPD intern zu heftigem Streit geführt. In einer erregten Aussprache in der SPD-Bundestagsfraktion zeigte sich Vizekanzler Franz Müntefering gestern verärgert über die Debatte: "Wir sind keine Schichtenpartei, wir sind eine Volkspartei", sagte er. Fraktionschef Peter Struck attackierte den Parteilinken Ottmar Schreiner und warf ihm unsolidarisches Verhalten vor, weil dieser den Hartz-IV-Reformen von Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) eine Mitschuld an der Armut gegeben hatte. Müntefering sagte, die Reformen hätten viele aus der Sozialhilfe geholt. Der frühere Finanzminister Hans Eichel sprach dagegen von einer "psychischen Verelendung" ganzer Bevölkerungsgruppen.

Die Union gab Rot-Grün die Schuld an der Entwicklung. Laut CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla ist in den sieben Jahren von Schröders Kanzlerschaft der "Anteil der Armen" gestiegen. In der "Mittelbayerischen Zeitung" plädierte Pofalla für die Einführung von Kombilöhnen, um mehr gering Qualifizierte wieder in Arbeit zu bringen.

SPD und Gewerkschaften wollen auch die Wohlhabenden ins Visier nehmen. SPD-Generalsekretär Hubertus Heil sagte dem Sender n-tv: "Wenn man über Armut redet, darf man über Reichtum nicht schweigen." DGB-Chef Michael Sommer forderte eine neue Verteilungsdiskussion. Grüne und Linksfraktion beantragten für morgen eine Aktuelle Stunde im Bundestag. Der grüne Fraktionschef Fritz Kuhn verlangte, die Leistungen für Arbeitslose nicht weiter zu kürzen: "Wer was gegen Armut tun will, muss mit der Missbrauchsdebatte aufhören."

Auch der Deutsche Kinderschutzbund rief die Politik zum Handeln auf. Mit Verweis auf die Todesfälle des kleinen Kevin in Bremen und Mehmet in Zwickau sagte Verbandspräsident Heinz Hilgers, Armut und die steigende Zahl von verwahrlosten Kindern hingen eng zusammen. 99 Prozent der Fälle würden in armen Familien registriert.