Analyse: Mit ihrem Gesundheitskompromiß macht sich die Koalition unglaubwürdig, kritisiert Ökonom Thomas Straubhaar. Die entscheidenden Fragen wurden wieder nicht gestellt, zum Beispiel, wozu eigentlich all das Geld ausgegeben wird, schreibt der Chef des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Instituts im Abendblatt.

Hamburg. Der Berg hat gekreißt. Er hat keine Maus geboren. Ein Moloch ist entstanden, der nur eines will: mehr Geld. Nach monatlangem Streit und nächtelangen Verhandlungen haben sich die Spitzen von Union und SPD in der Nacht zum Montag auf die Eckpfeiler einer Gesundheitsreform verständigt. Als erstes und wichtigstes sollen die Krankenkassenbeiträge zum 1. Januar 2007 erhöht werden. Damit bleibt sich die große Koalition treu. Wie bei der Mehrwertsteuer, der Revision der Hartz-Gesetze oder dem Elterngeld werden interne Kompromisse durch höhere Lasten für die Steuerzahler erkauft.

Offensichtlich stört es niemanden, daß damit die große Koalition ihre eigene Politik torpediert. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer wurde der Bevölkerung als Maßnahme zur Senkung der Lohnnebenkosten verkauft. Nun wird ein Teil der Entlastung wieder kassiert. Die Deutschen sollen nun doch höhere Beiträge bezahlen. Auch wenn sie hierfür weniger Leistungen erhalten. Damit verliert die große Koalition ein weiteres Stück ihrer Glaubwürdigkeit. Schritt für Schritt folgt sie einer Politik, die höhere Steuern und steigende Abgaben in die maroden Staatshaushalte pumpt, die, wie es die Bundeskanzlerin selber sagt, eigentlich grundsanierungsbedürftig sind.

Wie krank muß ein Gesundheitswesen sein, daß sich die Koalition über unterschiedliche Finanzierungsmodelle streitet, ohne zu hinterfragen, wozu eigentlich all das Geld ausgegeben wird? Kaum jemand spricht über Sinn und Zweck eines staatlichen Gesundheitswesens. Nur wenige reden darüber, mit welchen Instrumenten die angestrebten Gesundheitsziele am besten erreicht werden sollen. Die aktuelle Diskussion um eine Gesundheitsreform ist ein Paradebeispiel dafür, wie sich eine große Koalition ohne gemeinsames Ziel jenseits des puren Machterhalts auf Nebenschauplätzen beharkt, ohne klarzumachen, aus welchen wirklichen Gründen man sich überhaupt zankt. Ginge es nämlich tatsächlich um "Gesundheit", müßten die Parteispitzen nicht nächtelang darüber brüten, wie ein marodes Gesundheitssystem noch einmal zu mehr Geld kommen soll. Dann müßten Expertenrunden vielmehr darüber diskutieren, was beim deutschen Gesundheitswesen grundsätzlich schiefläuft und warum Deutschland bei der Gesundheit definitiv nicht Weltmeister ist.

Trotz der hohen Kosten erreicht die deutsche Gesundheitsversorgung im internationalen Vergleich keinen Spitzenplatz. Nimmt man die Lebenserwartung als zusammenfassende Kennziffer für den Erfolg eines Gesundheitssystems, zeigt sich rasch, wie weit Deutschland von den erfolgreichsten Ländern entfernt ist. Japanische Neugeborene dürfen erwarten, daß sie 85 Jahre alt werden, wenn sie weiblich sind, und 78, wenn sie männlich sind. Deutschland liegt mit einer Lebenserwartung von 81 Jahren für neugeborene Mädchen und 75 Jahren für neugeborene Jungen deutlich zurück.

Das gleiche Ergebnis zeigt sich für die Lebenserwartung aller Altersklassen, also bei der Frage, auf wie viele zusätzliche Lebensjahre 45- oder 65jährige noch hoffen dürfen. Hongkong, Kanada, Australien sowie eine Reihe europäischer Länder liegen deutlich vor Deutschland. Da hilft es auch nicht, daß die USA in diesen Fällen noch schlechter dastehen.

Ginge es bei der Gesundheitsreform wirklich um "Gesundheit", müßten sich die Parteispitzen darüber Gedanken machen, wieso im internationalen Vergleich in Deutschland Krankheiten des Kreislaufsystems und vor allem Herzprobleme relativ häufige Todesursachen sind. Oder es müßte gefragt werden, wieso außer Österreich kein anderes EU-Land (für das vergleichbare Daten vorliegen) einen so hohen Anteil an übergewichtigen Männern aufweist wie Deutschland und wieso im internationalen Vergleich auch zu viele deutsche Frauen übergewichtig sind. Oder es wäre darüber zu streiten, wieso in Deutschland die Bevölkerung das Gesundheitswesen nur als durchschnittlich beurteilt und nur etwa die Hälfte der Bevölkerung viel Vertrauen in das Gesundheitswesen hat - gegenüber drei Vierteln der Bevölkerung in Skandinavien, Belgien, den Niederlanden oder Österreich.

Es geht in der Gesundheitsdiskussion richtigerweise nicht darum, daß gute Gesundheit auch gutes Geld kostet. Das deutsche Problem ist es ja auch nicht, daß Deutschland für die Gesundheitsversorgung, nach den USA und der Schweiz gemessen am BIP, am meisten Geld ausgibt. Ein hochentwickeltes Land darf und soll sich eine gute Gesundheitsversorgung auch etwas kosten lassen. Erst recht, wenn die Menschen immer länger leben. Denn auch wenn viele Meinungsmacher die demographische Entwicklung zum Schreckgespenst machen, bleibt richtig, daß die steigende Lebenserwartung zuallererst ein Segen ist, der nicht zuletzt den medizinischen Fortschritten der letzten Dekaden geschuldet ist. Wer sich über die steigenden Gesundheitskosten als Folge der Alterung der Gesellschaft beklagt, hat schlicht nicht nachgedacht. Denn daß ein erfolgreicher Kampf gegen Alterskrankheiten Geld kostet, ist selbstredend. Eine Bevölkerung, die gesünder und länger leben darf, muß mehr Geld ins Gesundheitswesen stecken. Hier zu sparen allein des Sparens wegen, ist menschenverachtend.

Eine völlig andere tatsächliche Herausforderung liegt in einer der schwierigsten Entscheidungen überhaupt, die eine Gesellschaft zu treffen hat: nämlich festzulegen, wie weit der Staat allen gleichermaßen zu allen medizinischen Leistungen Zugang verschaffen soll. Im Paradies wäre die Antwort einfach: Alle sollen alles erhalten. Die Realität ist komplexer. Um allen alles zu finanzieren, was medizinisch-technologisch machbar ist, fehlt dem Staat das Geld. Denn das Geld, das für die Gesundheitsversorgung eingesetzt wird, kann andernorts nicht ausgegeben werden. Und irgendwann kann auch die Steuerschraube nicht noch einmal stärker angezogen werden, ohne nicht den Steuerfluß zu gefährden.

Also geht es um einen Abwägungsprozeß. Worauf muß die Bevölkerung bei der Bildung, der inneren und äußeren Sicherheit, beim Verkehr und der Infrastruktur verzichten, wenn aus der Staatskasse ein Euro zusätzlich ins Gesundheitswesen fließt? Genauso muß ein gesellschaftlicher Konsens dafür gefunden werden, ob und wie weit das knappe staatliche Geld eher für lebensverlängernde Maßnahmen im Alter oder für lebensqualitätsverbessernde Maßnahmen in früheren Lebensphasen einzusetzen ist.

Diese ethisch hochkomplexen, in jeder Hinsicht mehr als schwierigen Fragen sind es, die von einer Koalition aller staatstragenden Parteien, gesellschaftlichen Kräfte und der Kirchen nächtelang thematisiert, gedreht und gewendet und zum Ende nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet werden müßten.

Gerade weil es im Gesundheitswesen nie zu viel Geld geben kann, die finanziellen Möglichkeiten einer Gesellschaft jedoch Grenzen haben, geht es mehr denn je darum, mit jedem Euro, der ins Gesundheitswesen fließt, ein Maximum an Gesundheitsverbesserung zu erzielen. Und bei dieser Forderung krankt das deutsche Gesundheitswesen - nicht zuletzt einer oft falsch verstandenen Gerechtigkeitsfrage wegen. Natürlich und völlig unstrittig muß es bei der anstehenden Gesundheitsreform auch um eine wie auch immer definierte "Gerechtigkeit" gehen.

Um aber Gerechtigkeitsziele zu verfolgen, bedarf es nicht des heutigen Systems der gesetzlichen Krankenkassen. Wem es um Gerechtigkeit geht, soll Gerechtigkeitsziele durch das Steuersystem und direkte Hilfen an Ärmere zu erreichen versuchen. Alles andere ist ungenau, ineffizient und damit auch nicht sozial. Das gilt besonders für den Versuch, mit Hilfe der gesetzlichen Krankenkassen Gerechtigkeitsziele verfolgen zu wollen.

Versicherungen sind dazu gedacht, Menschen mit ähnlichen Risiken und mehr oder weniger zufälligen Wahrscheinlichkeiten des Schadenfalls zusammenzubringen. In einer Gesundheitsversicherung sollen sich Kranke und Gesunde gegenseitig in einer Solidargemeinschaft gemeinsam absichern. Das ist mehr als vernünftig. Wieso aber dieses Versicherungselement mit einem sozialpolitischen Element gekoppelt wird, ist ökonomisch nicht einsichtig. Sozialversicherungen sind weder effiziente Versicherungen, noch erfüllen sie die sozialpolitischen Ziele mit der erforderlichen Genauigkeit. Beispielsweise kann die Folge sein, daß gesunde aber ärmere Versicherte besserverdienende Kranke subventionieren. Das kann niemand wirklich wollen. Direkte Hilfe ist ökonomisch sinnvoller und sozialpolitisch "gerechter" als indirekte Maßnahmen, die immer mit Sickerverlusten in Form von Bürokratie und Fehlanreizen verbunden sind.

Die Krankenkassen sollten wie die privaten Krankenversicherungen individuelle Prämien nach rein versicherungsmathematischen Regeln berechnen dürfen. Die Prämien müßten zuallererst von den Versicherten selber einbezahlt werden. Erst danach käme die sozialpolitische Komponente zum Tragen: Wer finanziell nicht in der Lage ist, die individuellen Versicherungsprämien zu bezahlen, erhält staatliche Zuschüsse. Zwangsläufig müßten diese staatlichen Zuschüsse nicht über Lohnabgaben, sondern aus den allgemeinen Steuern zu finanzieren sein.

Aus diesem Grunde stimmt beim Kompromiß einer Gesundheitsreform die Stoßrichtung wenigstens in den Teilen, in denen versicherungsfremde Leistungen aus den gesetzlichen Kassen herausgebrochen und durch den allgemeinen Staatshaushalt abgedeckt werden sollen. Es ist richtig, ab 2008 die Krankenversicherung für Kinder schrittweise aus Steuermitteln zu finanzieren. Ein wirklicher Durchbruch ist dieser einzige kleine Schritt aber noch nicht. Mehr muß geschehen, damit Deutschland nicht am Gesundheitswesen ernsthaft erkrankt.