Richtlinienkompetenz: Stoibers erster Querschuß. In einer großen Koalition muß der Chef große Rücksichten nehmen - Konsens statt Kommando.

Berlin. Wie mächtig ist eigentlich ein Bundeskanzler oder eine Bundeskanzlerin? Formal scheint die Sache eindeutig. Wer in Kommentaren zum Grundgesetz stöbert, dem machen Fachjuristen klar: Ein Bundeskanzler oder eine Bundeskanzlerin genießt auch dank der Richtlinienkompetenz eine "herausragende Stellung" im Kabinett. "Unklarheit" herrsche aber über "Rechtsnatur und Grenzen der Richtlinien", heißt es dann etwa im Grundgesetz-Kommentar von Schmidt-Bleibtreu/Klein.

Weil die Sache juristisch ein wenig diffus ist, bietet sich der Politik prompt eine prächtige Gelegenheit, über die mögliche Machtfülle einer noch nicht einmal gewählten künftigen Kanzlerin Angela Merkel zu streiten. Auslöser war die Bemerkung von CSU-Chef Edmund Stoiber, Merkel habe "kein klassisches Direktions- und Weisungsrecht". Wolfgang Bosbach (CDU), Jurist, versierter Innenpolitiker und stellvertretender Vorsitzender der Unions-Fraktion, hält das alles für eine "sehr theoretische Diskussion". "Man darf nicht die Richtlinienkompetenz mit dem Tagesbefehl verwechseln", sagte Bosbach gestern dem Abendblatt. Auf dem Kasernenhof kann ein Kommandeur seine Truppe per Befehl dirigieren. In der Politik laufen die Dinge anders. Koalitionspartner lassen sich vom Regierungschef, egal ob Mann oder Frau, nicht per Befehl wie Soldaten scheuchen.

Selbstverständlich sei in einer Koalition die Basis für die gemeinsame Arbeit die Koalitionsvereinbarung, sagte Bosbach weiter. Und es sei dabei völlig egal, ob man eine große oder eine kleine Koalition habe: "Man muß Rücksicht nehmen auf den Koalitionspartner, sonst ist die Koalition schnell am Ende. Sonst hat auch der Kanzler keine Mehrheit mehr. Das weiß doch jeder, der das Amt innehat." Jeder Kanzler einer Koalition wisse, was er dem Partner zumuten könne und was nicht. Es sei immer ein Unterschied zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, meint auch CSU-Landesgruppenchef Michael Glos.

Entscheidungsfindung funktioniert in der Politik selten nach dem Prinzip Befehl und Gehorsam, sondern über andere Wege. Zu Zeiten der ersten großen Koalition von 1966 bis 1969 war der "Kressbronner Kreis" ein zentrales informelles Gremium, in dem wichtige Entscheidungen fielen. Gegründet wurde die Runde im August 1967 in Kressbronn am Bodensee, dem Urlaubsort des damaligen Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger (CDU). Später tagten die Spitzen-Koalitionäre meist dienstags in Bonn.

Am ersten zwanglosen Treffen mit Kiesinger nahmen nur Willy Brandt (SPD-Chef, Vizekanzler und Außenminister), Herbert Wehner (SPD-Vize und Gesamtdeutscher Minister) sowie Bruno Heck (CDU-Generalsekretär und Familienminister) teil. Ein Jahr später war der Kreis auf etwa ein Dutzend Teilnehmer gewachsen. Dazu zählten die Fraktionschefs Helmut Schmidt (SPD) und Rainer Barzel (CDU/CSU). In diesem informellen Kreis wurden viele Entscheidungen getroffen, bevor sie in offiziellen Gremien, im Kabinett oder im Bundestag, beraten und beschlossen wurden. Nicht auf die Richtlinienkompetenz habe dabei Bundeskanzler Kiesinger gepocht, sondern seine Fähigkeiten als ausgleichender Moderator ausgespielt.

Ähnliche Zirkel haben alle späteren Kanzler installiert und genutzt. Helmut Kohl hatte seine Koalitionsrunde, die in der Regel Dienstag früh, Punkt acht Uhr, im Bonner Kanzleramt tagte - mit den Spitzen von Union und FDP, mal in kleinerer, mal in größerer Besetzung. Hier wurden Streitfragen ausgeräumt, Kompromisse geschmiedet. Hier wurde die Koalition zusammengehalten. Auch Rot-Grün schuf sich ähnliche Abstimmungszirkel. Die große Koalition wird solche Zirkel ebenfalls benötigen, zur Vertrauensbildung, Konsensfindung und Streitbeilegung.