Hamburg. Schüsse hallen durch die gefluteten Straßen von New Orleans, Panzerwagen der Polizei bahnen sich den Weg auf der Suche nach Plünderern. New Orleans droht nach den Fluten auch in Anarchie zu versinken. Wo ist die Solidarität der Notleidenden? "Es wäre blauäugig zu denken, nach einer Katastrophe entsteht nur Solidarität und Hilfe", sagt der Kieler Katastrophenforscher Wolf Dombrowsky. "In jeder Gesellschaft gilt der Grundsatz: Not kennt kein Gebot. Wenn es ums Überleben geht, sind alle Regeln außer Kraft gesetzt."

In dieser Situation, so erklärt der Leiter der Katastrophenforschungsstelle der Universität Kiel, kann das Pendel in zwei Richtungen ausschlagen. Ist die Gesellschaft intakt, entsteht in der Regel hohe Solidarität und der Wunsch, das Unglück schnell zu überwinden. Ist eine Gesellschaft aber zerrissen und voller Konflikte, geschieht das, was derzeit die Welt in New Orleans beobachtet. "Dann gilt der Satz des Kapitäns auf einem sinkenden Schiff", sagt Dombrowsky. "Von nun an jeder für sich."

Hinter "The Big Easy" (Die große Leichtigkeit) verbergen sich in New Orleans große Probleme. "Das ist der Armutsgürtel Amerikas", sagt Dombrowsky. Die drei betroffenen Staaten zählen traditionell zu den zehn ärmsten der USA. Mississippi liegt mit 17,9 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze an dritter Stelle, Louisiana (16,9 Prozent) an fünfter und Alabama (15,1) an achter Stelle.

Der Anteil der schwarzen armen Bevölkerung ist in diesen Südstaaten hoch. In New Orleans leben zu 67 Prozent Schwarze, ein knappes Drittel der Einwohner (28 Prozent) sind Weiße. Etwa 40 Prozent können nur einfache Sätze lesen und schreiben. Viele halten sich mit Mini-Jobs über Wasser, die knapp über der Armutsgrenze liegen. Im Großraum von New Orleans leben 1,5 Millionen Menschen, von denen gerade außerhalb der Stadt viele nicht mehr als Mobile Homes oder instabile Holzhäuser nutzen.

"Im Windschatten der Katastrophe kommt jetzt alles hoch, was sich an Hoffnungslosigkeit, Wut, Verzweiflung und an Gefühl der Unterpriviligierung aufgestaut hat", sagt Dombrowsky. Dazu herrschen ohnehin katastrophale Bedingungen: kein Strom, kein Wasser, keine Essen, keine Telekommunikation, keine Rettung. Nach Meinung des Forschers wäre die Regierung "gut beraten", den Notleidenden die Geschäfte zu öffnen, statt Gewehre gegen sie zu richten.

"Statt ehemaliger Soldaten sollte man lieber Sozialpädagogen schicken", sagt er. "Meine Sorge ist, daß jetzt eher eskalierend reagiert wird und damit ein für das 21. Jahrhundert nicht angemessenes Zeichen gesetzt wird." Dombrowsky fürchtet, daß diese Hurrikan-Katastrophe und die bürgerkriegsähnlichen Bilder aus der Stadt bei den Amerikanern einen ähnlichen Schock auslösen, wie die Terroranschläge vom 11. September. Dabei war diese Katastrophe - "so schlimm es klingt" - vorhersehbar. Über die "wunden Punkte" sei sträflich hinweggesehen worden: Die maroden Dämme, die New Orleans eigentlich vor den Wassermassen des Mississippi und des Pontchartrain Sees schützen sollten, die Lage der Stadt unterhalb des Wasserspiegels und die wasseranfälligen Pumpwerke. Die Federal Emergency Management Agency warne außerdem schon lange, daß das meiste Geld in die Terrorismusbekämpfung fließe.

"Wann kommt endlich der moderne Katastrophenschutz, der Stadt- und Regionalplanung integriert?", fragt Dombrowsy. "Wir operieren in den Industrieländern unter unseren Kenntnissen und technischen Möglichkeiten."