Was ist das für eine Medienwelt, in der der Freitod eines Fußballers alles Weltgeschehen überdeckt, das Fernsehen zu Sondersendungen animiert und die Menschen im Blitzlichtgewitter auf die Straße treibt?

Sehr geehrte Damen und Herren,

was ist das für eine Medienwelt, in der der Freitod eines Fußballers alles Weltgeschehen überdeckt, das Fernsehen zu Sondersendungen animiert und die Menschen im Blitzlichtgewitter auf die Straße treibt? Diese öffentliche Aufmerksamkeit wird selten dem Ableben eines Politikers oder Künstlers zuteil. Das Volk der Dichter und Denker wird durch die irrationale Erhebung von König Fußball einer kollektiven Gehirnwäsche unterzogen. Soll das informativer Journalismus sein?

Mit freundlichen Grüßen

Christiane Mielck-Retzdorff

Sehr geehrte Frau Mielck-Retzdorff,

als ich gehört habe, dass die ARD die Trauerfeier für Robert Enke live übertragen wolle, dachte ich: Jetzt ist endgültig etwas aus den Fugen geraten. Denn schon die Kameraführung des NDR beim Gedenkgottesdienst am Mittwochabend war irritierend genug gewesen: sekundenlang close, also nah und möglichst noch näher, auf der trauernden Witwe, auch auf ihrem Gesicht, damit wirklich keine Träne ungesehen bleibt - und das in einer Kirche! Was für eine geschmacklose Verwendung von TV-Gebühren.

Als ich dann gestern sah, dass der "Spiegel" seine Titelgeschichte Robert Enke gewidmet hat und die "Süddeutsche Zeitung" zum großen Seite-3-Thema - anders als wir - nicht die SPD, sondern den Sportler erhob, wurde ich fast ein wenig unsicher, ob das Abendblatt nicht zu klein und zu kühl berichtet hat: ein Foto auf Seite eins (ohne Blick ins Gesicht von Teresa Enke), ein kritischer Kommentar ("Beklemmende Massentrauer") und ein großer Bericht im Sport. Aber nein, auch jetzt noch: Das war schon richtig, diese Gewichtung und Einordnung waren unser Statement. Eine wichtige Standortbestimmung.

Sie fragen, ob der Tod eines Torwarts überhaupt wichtig oder interessant und damit von öffentlichem Interesse ist, abseits des Voyeurismus. Ich meine: ja, wenn er über den Verlust des Einzelnen hinaus eine Bedeutung hat.

Viele, die Robert Enke kannten, haben seinen offenen, freundlichen und hilfsbereiten Charakter beschrieben. Die Tatsache, dass gerade so ein Mensch, der beruflich im Flutlicht des Erfolgs stand, so sehr in Schwierigkeiten geriet, dass er keinen anderen Ausweg mehr wusste als den Suizid, hat viele Menschen betroffen gemacht - und sie vielleicht auch an die Zerbrechlichkeit ihrer eigenen Existenz erinnert.

Enkes Tod wirft Fragen auf, die über den Fußball hinausreichen. Wie geht unsere Gesellschaft mit Leistungssportlern und Menschen um, die berechtigte Sorge haben, den an sie gestellten Anspruch nicht immer erfüllen zu können? Enkes Schicksal erinnert daran, dass es lebensgefährlich sein kann, wenn man sich als Mensch zu sehr über Arbeit und Leistung definiert, daran haben Redner aus vielen gesellschaftlichen Gruppen in nachdenklichen Reden erinnert. In den meisten westeuropäischen Ländern ist der Suizid übrigens keine Straftat, in der Schweiz gilt er sogar als Menschenrecht.

In unserer Berichterstattung geht es uns keineswegs darum, König Fußball hochzujubeln, wir bleiben um Diskretion bemüht. Enkes tragischer Tod ist aber auch eine Mahnung an den sorgfältigen und aufmerksamen Umgang mit der Krankheit Depression, an der vier bis fünf Millionen Deutsche leiden - und über die viele Menschen noch vor einer Woche nur wenig wussten. Die zahlreichen Briefe und E-Mails, die unsere Redaktion erhalten hat (siehe links), bringen auch zum Ausdruck, wie froh einige der Erkrankten, Freunde oder Verwandten darüber sind, sich jetzt offener über diese Dinge äußern zu können.

Etwas mehr Nachdenklichkeit im Umgang mit dem Fußball kann sicherlich nicht schaden, da haben Sie recht. Aber Depressionen und andere Krankheiten können alle befallen, egal ob Fußballer, Dichter, Denker, Politiker oder Philosophen. Da steht keiner über dem anderen.

Vielleicht bleibt von diesen Tagen nicht nur die Trauer über den bemerkenswerten Menschen Robert Enke, sondern auch die Erinnerung und Mahnung an einen achtsameren Umgang miteinander. Das wäre von höchstem öffentlichen Interesse.

Herzlichst,

Ihr Claus Strunz