Aus der Totale sieht das Berliner Olympiastadion selbst am Abschlusstag wie ein unvollendetes Puzzle aus. Viele Sitzreihen sind nur spärlich besetzt.

Dabei hatte die Leichtathletik-Weltmeisterschaft alles zu bieten, was das Zuschauerherz begehrt: Packende Duelle, häufig mit deutscher Beteiligung, spektakuläre Wettkampfverläufe und viel Emotionen.

Tränenreich begann die WM-Woche, und mit einer kleinen Sensation: Die Königin der Lüfte, die russische Stabhochsprungweltrekordlerin, Olympiasiegerin und amtierende Weltmeisterin Jelena Gadschijewna Issinbajewa konnte ihren Titel nicht verteidigen. Für viele eine der größten Über-raschungen der WM, und dennoch nur eine kleine Sensation. Issinbajewa hatte hoch gepokert, da ist Scheitern inbegriffen. Im Finaldurchgang begann sie erst, als bis auf eine Mitbewerberin be-reits alle anderen ausgeschieden waren. Warum hat sie das getan, haben sich viele im Anschluss an den Wettbewerb gefragt. Ein Blick in die Psyche der Athletin könnte Aufschluss geben: Issin-bajewa hat in ihrer Sportlerkarriere bereits alles erreicht, und da verlangt das Ego nach mehr. Ist der erste 8000er Gipfel bestiegen, muss der zweite ohne Sauerstoffgerät erklommen werden, der dritte dann über eine gefährliche Route und beim vierten zuvor der Nord- und Südpol an einem Wochenende erreicht werden. Was nun kann eine Athletin reizen, die in ihrer Disziplin bereits alles erreicht hat? Bei einer Weltmeisterschaft mit nur zwei Sprüngen den Titel holen – einen im Vorkampf über die Qualifikationshöhe, einen im Hauptkampf – den zum Sieg. Was wäre das für eine Demonstration von Stärke und Überlegenheit. Issinbajewa hatte den Vorkampf mit nur ei-nem Sprung abgeschlossen, und auch im Hauptkampf hätte ein gelungener Erstversuch über die 4,75 Meter zum Titel gereicht. Vielleicht erklärt das, was passiert ist. Ob nun später in den Ge-schichtsbüchern stehen würde, sie sei vier- oder fünfmal Weltmeisterin geworden, schien ihr möglicherweise unerheblich. Aber einen Weltmeistertitel mit nur einem einzigen Sprung im Fi-nale zu erringen – das war möglicherweise für Issinbajewa ein attraktives Ziel. Gesagt hat sie es indes nicht. Nur: geweint.

Zu Tränen gerührt war auch Hochsprung-Weltmeisterin Blanca Vlasic. Im Wettbewerb unter-stützten die Zuschauer nicht nur die deutsche Goldhoffnung Ariane Friedrich, sondern auch sie, der Deutschen stärkste Rivalin, die in einem spannenden Finale schließlich vor der Russin Anna Chicherova gewann. Friedrich holte Bronze, zuvor hatten Diskuswerfer Robert Harting und Speerwerferin Steffi Nerius die beiden Goldmedaillen für Deutschland erkämpft. Auf die Weg-werffraktion (Diskus, Speer, Hammer) war auch in Berlin wieder Verlass. Immerhinque.

Diskuswerfer Harting machte dabei nicht nur sportlich von sich reden. Denn was der gluteus ma-ximus bei den Hochspringern, ist das Mundwerk bei Robert Harting. „Wenn der Diskus auf dem Rasen aufspringt, soll er gleich gegen eine der Brillen springen, die die Doping-Opfer hier ver-teilt haben. Aber ich bin kein Mörder, ich will nur, dass sie wirklich nichts mehr sehen“, erklärte Harting nach der Quali in der Mixed-Zone. Harting bezog sich mit dieser Aussage auf die Aktion des Dopingopfer-Hilfe-Vereins, der während der WM 20.000 Papp-Brillen verteilte, um auf den ihrer Meinung nach laxen Umgang mit dem Thema Doping sinnbildlich aufmerksam zu machen. Mit seiner Ankündigung schien Harting eindrucksvoll zu belegen, dass der Sinnspruch „mens sana in corpore sano“ Ausnahmen von der Regel gestattet. Denn in Hartings gesundem Körper will der Geist scheinbar nicht immer mitziehen. Obwohl die allseits bekannte Redewendung le-diglich ein verkürztes Zitat aus den Satiren des römischen Dichters Juvenal ist, der schreibt: „O-randum est, ut sit mens sana in corpore sano.“ Zu deutsch: Beten sollte man darum, dass in einem gesunden Körper ein gesunder Geist sei. Harting schreibt auf seiner Homepage (www.derharting.de), er sei nicht religiös. Sollten wir für ihn beten? Es täte ihm alles schrecklich Leid, was er so in den letzten Tagen vor und während der WM verbal herausgehauen habe, be-kundete der 2,01 Meter Hüne in einer nach dem Titelgewinn einberufenen Pressekonferenz. Er sei kein Vorbild gewesen und wolle sich entschuldigen: „Ich kann kein Deutsch.“ Ob es ihm wirklich Leid tut, wissen wir nicht. Wir wissen aber, dass er in jedem Fall gelogen hat, denn er spricht deutsch, und das sogar ausgezeichnet. Das merkt man spätestens, wenn man die Texte liest, die er auf seine Homepage gestellt hat. Zudem erfahren wir auch aus seiner Vita, dass Ro-bert Hartung Abitur gemacht hat, und dass zu seinen Hobbies die Malerei zählt. Einige seiner abstrakten Werke sind ebenfalls auf der Homepage zu bewundern. In den Medien wurde seine Entschuldigung als authentisch wahrgenommen und als Akt der Versöhnung interpretiert. Prob-lembär Harting, so der Tenor, habe eingesehen, dass er einen Fehler begangen habe. Aber wenn er nun doch gar nicht so unbedarft ist, wie er sich gibt und die Medien ihn darstellen? Schauen wir uns seine Aussagen und die Kritik, die dahinter steht, doch einmal etwas genauer an. Im Kern sind es zwei Tatbestände, die Hartings Äußerungen provoziert haben: Zum einen ist es die Kün-digung seines langjährigen Trainers Werner Goldmann seitens des DLV; Goldmann hatte als Trainer in der DDR seinen Athleten wissentlich Dopingmittel mit der Aussage, es handele sich um Vitamine, verabreicht und Schädigungen seiner Schützlinge billigend in Kauf genommen. Zum anderen war es eine Kritik an der Arbeit der Verbandsfunktionäre, die in der Aussage Har-tings kulminierte, „den Clemens Prokop brauche kein Mensch“. Dabei ist niemand im DLV so aktiv wie der promovierte Jurist Prokop: Er ist u.a. Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, Gesellschafter der WM-Organisation, Präsident des WM-Organisationskomitees und Vorsitzender des WM-Aufsichtsrats. Ein Vorteil dieser Ämterhäufung besteht nicht zuletzt in der Möglichkeit, wie Journalist Jens Weinreich auf seiner Homepage schreibt, „etwaige Interessens-konflikte atomisieren“ (http://jensweinreich.de). Hört sich doch brauchbar an, oder?

Dass Harting im Fall Goldmann besondere Emotionalitäten mitbringt, ist menschlich verständlich – schließlich ist „Goldi“ seit vielen Jahren sein Trainer und Mentor, kennt dessen Stärken und Schwächen wie kein Zweiter. Und schließlich hat jede Medaille zwei Seiten, und in einem Kon-flikt ist es in der Regel so, dass jede Partei eben eine Seite der Medaille besonders betont. Die Dopingopfer dokumentieren die körperlichen wie psychischen Folgen des systematischen Do-pings, für das Goldmann steht (und für viele nicht ausreichend mit der Zahlung von 4000 Euro bestraft wurde), während die Sportler, die am 12.01.2009 eine Erklärung verfassten, um die Wie-dereinstellung Goldmanns zu erwirken, betonen die Zeit, die mittlerweile vergangen sei und die vielen guten Dinge, die Goldmann seit der Wende für seine Athleten bewirkt habe (www.taz.de/1/sport/artikel/1/taeter-wird-opfer). Der Leichtathletik-Verband hat sich hier den Standpunkt der Doping-Opfer zu eigen gemacht und den Vertrag Goldmanns als Bundestrainer seinerzeit nicht verlängert. Ob Goldmann mittlerweile selbst Opfer ist und wie ein angemessener Umgang mit der Geschichte auszusehen hat, ist ein hoch emotionales Thema, das Harting wieder in die (breite) öffentliche Diskussion eingebracht hat. Über das „wie“ mag man streiten, aber gut, dass es nun wieder Thema ist. Denn der Sensationsfund eines Briefes zeigt, dass es im DDR-System auch anders ging – und auch Trainer Rückgrat bewiesen (www.sueddeutsche.de/sport/355/484788/text).

Überdenkenswert ist auch Hartings Kritik an Verbandsfunktionären im Allgemeinen und Cle-mens Prokop im Besonderen. In der Tat sind die Handlungslogiken und Entscheidungsprozesse im DLV – angefangen bei der Preispolitik über das Akkreditierungsprozedere (denen sich die Kollegen der taz widersetzten und die Veranstaltungen boykottierten) bis hin zu den mitunter unverständlichen Nominierungskriterien für die WM zumindest fragwürdig. Harting hat ein Fass aufgemacht, das viele aus unterschiedlichen Motiven gerne zunageln wollen. Fragen, wie man mit der Vergangenheit umgehen und wer mit welchen Mitteln die Richtung für die Zukunft bestimmen soll. Harting ist aber kein Sportpolitiker und auch kein Journalist, er ist Sportler und muss sich auf das konzentrieren, was er am besten kann – die 2-Kilo-Scheibe in den Wind legen. Gefordert sind andere.

Ein anderes Biest hat derweil die US-amerikanische Presse ausgemacht: den Jamaikaner Usain Bolt. „Who beats the Beast?“ können wir dort lesen – und nach der 4x100 Meter-Staffel die Fra-ge auch antworten: „No one.“ Und das ist auch gut so. Warum? Die ewig coolen, in Gang und Gestus an Gangsta-Rapper erinnernden US-Kurstreckenläufer, die selbst nach souveränen Siegen kein Lächeln erkennen lassen, weil Emotionen zeigen eine Schwäche bedeutet, ja diese Typen schauen nun regelmäßig auf den Rücken eines Jamaikaners, der den Spaß in die Disziplin zu-rückgebracht hat. „Ich bin ein Berlino“ stand auf dem Trikot vom Witz-Bolt, als er am Donners-tag in den Innenraum zum 200 Meter-Finale mit seinen Kollegen einmarschierte – und dabei ein Schwätzchen mit einem Konkurrenten hielt. Nach dem Startschuss rannte er mal wieder alle in Grund und Boden – natürlich in neuer Weltrekordzeit: 19,19 Sekunden – einen Tag vor seinem 23. Geburtstag. Und als dann das Olympiastadion ein Geburtstagsständchen anstimmte, schien er sogar ein wenig gerührt, der große Dominator. Erschreckend nur der Kommentator eines BBC-Kollegen, der meinte, die Briten würden wohl kein „Happy Birthday“ anstimmen, wenn ein Deutscher bei einer solchen Veranstaltung in England auf dem Siegertreppchen stünde.

Auf seine Fabelzeit angesprochen, sagt Bolt, er sei überrascht, habe er sich doch ein wenig müde gefühlt. Ob er denn keine Grenzen kenne. “You have to ignore them“, antwortet Bolt mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Endlich mal einen Antwort, die rockt. Kein affektiertes und überheb-liches Gehabe, sondern Raggae. In Anlehnung an Bob Marleys Klassikers „Iron - like a lion - in Zion“ könnte der Song der WM „Usain Bolt - ja der holt - nur noch Gold“ heißen. Dass die Ja-maikaner die Kurzstrecken seit den Olympischen Spielen in Peking dominieren, muss dabei nicht unbedingt mit unerklärlichen Leistungssteigerungen zu tun haben. Schließlich haben die USA in den letzten Jahren Spitzensprinter aus der Karibik mit Stipendien an ihre Hochschulen gelockt und sie mit der amerikanischen Staatsbürgerschaft ausgestattet, so dass sie für die USA Medail-len holten. Bolt hingegen blieb (wie nun auch andere) in Marley-Country. Und werden zum Alp-traum der erfolgsverwöhnten Amerikaner. Wie tief der Frust sitzt, zeigt sich nach den Siegen der US-Staffeln, als einige der Sprinter die typischen Victory-Zeichen des Jamaikaners imitieren.

Sex sells, auch im Sport. Und so hatte eine Geschichte, die die Klatschseiten der Blätter füllte, im übertragenen Sinn auch etwas mit Sex zu tun. Besser: mit dem Geschlecht. So fragten sich Funk-tionäre wie Journalisten nach dem souveränen 800 Meter-Sieg der Südafrikanerin Caster Seme-nya, ob es sich bei der Person auch wirklich um eine Frau handele. Und wenn schon dem äußeren Anschein nach, so doch vielleicht um eine, in dessen genetischen Code sich ein Y-Chromosom geschlichen hat? War das eine erbärmliche Zurschausstellung eines jungen Menschen, die im übrigen auch unverzeihlich bleibt, sollte es sich tatsächlich um einen Mann handeln. Hätte man diesen Test nicht diskret durchführen können? Wenn sie ein er ist, wäre es ohnehin noch medial ausgeschlachtet worden. Doch der Leichtathletik-Weltverband IAAF ging an die Öffentlichkeit, die ja schließlich ohnehin schon stutzig geworden ist: die tiefe Stimme, die maskulinen Gesichts-züge, die Muskelberge und letztlich auch die fantastische Zeit, die dieser Mensch gerannt ist. Bilden Sie sich ihr eigenes Urteil unter www.youtube.com/watch?v=G-bqET22vEU&feature=related. Aber eine Frage hätte ich dann doch noch: Warum muss die ame-rikanische Weitsprung-Weltmeisterin Brittney Reese nicht auch zum Test? Schließlich betreibt sie die Sportart erst seit zwei Jahren (und gewinnt mit fantastischen 7,10 Metern), und physiog-nomisch betrachtet ist auch einiges denkbar (www.usatf.org/athletes/bios/Reese_Brittney.jpg). Warum also muss die Afrikanerin zum Text, die Amerikanerin aber nicht? Wer hat hier welche Kriterien entwickelt? Und wieder: Wer bestimmt in diesem Verband, was gemacht wird? Welche Motive stecken dahinter? Die Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Deutschland ist am gestrigen Sonntag nach neun ereignisreichen Tagen zu Ende gegangen. Eine Reihe von Fragen sind geblie-ben.

Der Hamburger Sportsoziologe Dr. Markus Friederici berichtet in einer monatlichen Kolumne über das Sportgeschehen.