Sportsoziologe Dr. Markus Friederici blickt auf abendblatt.de exklusiv auf die vergangenen Wochen gewohnt kritisch, bissig und pointiert zurück.

Dass Kreativität und sportliche Höchstleistungen miteinander Hand in Hand gehen, zeigen die Erklärungen von Radsportlern, die in den letzten Jahren der Einnahme von Dopingmitteln überführt worden sind. Als Tyler Hamilton Blutdoping nachgewiesen wurde, behauptete der Amerikaner, ein "Mischwesen" zu sein - eine sogenannte Chimäre. Die Zellen in seinem Körper, die die schlimmen Werte verursachten, gehörten seinem noch vor der Geburt gestorbenen Zwillingsbruder. Kollege Christian Henn hatte laut eigener Aussage ein ganz anderes Problem: Seine positive Probe habe der Genuss eines Tees verursacht, der - laut Schwiegermutter - die Zeugungskraft stärke. Auch Mountainbikerin Ivonne Kraft hält eine interessante Geschichte bereit, um das Fenoterol in ihrem Körper zu erklären: Der Asthma-Inhalator ihrer Mutter sei in ihrem Beisein explodiert. Vor Schreck habe sie „huch“ gesagt und dabei etwas von der Substanz inhaliert. Radsportler sind ergo kreative Menschen, schlagfertig und medizinisch vorgebildet. Und sollte in ihrem Körper eine Substanz gefunden werden, die da nicht hingehört, dann waren in jedem Fall die anderen Schuld: Der tote Bruder, die Mama oder die Schwiegermutter. Und sie selbst: Opfer.

Ein weiteres, selbst erklärtes Opfer ist ein Star aus der Eisschnelllaufszene: Claudia Pechstein. Nomen est omen, griff bei ihr erstmals eine neue Blutprofil-Regel der Welt-Antidoping-Agentur (WADA), wonach Sanktionen gegen Sportler bereits wegen Auffälligkeiten in ihrem Blutprofil ausgesprochen werden können, ohne dass ein konkreter positiver Dopingbefund vorliegt. Der Eislauf-Weltverband ISU sperrte daraufhin die Athletin für zwei Jahre. Pechstein indes beteuert ihre Unschuld, nie hätte sie gedopt, never ever. Und ein Argument ist überzeugend: Sollte sie rechtskräftig verurteilt werden, verlöre die Zollinspektorin ihren Beamtenstatus. Natürlich wissen Dopingsünder auf der anderen Seite auch, dass ein solches Argument starke Zweifel an ihrer Schuld erweckt und sie es daher strategisch hervorragend einsetzen können. Ein anderer Umstand macht mich aber viel mehr stutzig: Stellen Sie sich einmal vor, sie sind Spitzensportler und haben nie gedopt. Nun ist bei mehreren Routinekontrollen ihr Blutbild auffällig, und hochrangige Mediziner teilen ihnen mit, dass solche Werte nur mit einem genetischen Defekt, einer Leukämieerkrankung oder starker Tumorbildung zusammenhängen können. Da die Blutwerte bei weiter zurückliegenden Tests im normalen Bereich lagen, fällt ein genetischer Defekt als Ursache aus, denn der hätte mit höchster Wahrscheinlichkeit seit der Geburt ein entsprechendes Blutbild produziert. Bleiben Leukämie und massive Tumorbildung. Was also würden Sie machen, nachdem sie diese Info erhalten hätten? Ich kann Ihnen sagen, was ich gemacht hätte: Ich hätte am nächsten Morgen um 8 Uhr auf der Matte meines Hausarztes gestanden. Claudia Pechstein hat das nicht getan und ist der Aufforderung der ISU, das Blutbild zu erklären, medizinisch (zunächst) nicht nachgekommen – warum auch immer. Ihr Arbeitgeber hat mittlerweile ein Disziplinarverfahren eingeleitet.

Welchen Effekt das Doping haben kann, erfahren wir von Ex-Stabhochspringerin Yvonne Buschbaum, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzog nun unter dem Namen Balian Buschbaum deutsche Stabhochspringer trainiert. Eindrucksvoll berichtet er, welchen Effekt die Einnahme körperfremder (männlicher Geschlechtshormone) Stoffe zeitigt: „Seit Beginn der Hormonbehandlung kann ich mich in Grund und Boden trainieren und wache am nächsten Morgen herrlich regeneriert und frisch auf. Früher benötigte ich viele weitere Tage dazu.“ (www.pole-it-buschbaum.de). Dass sich bei solchen Aussichten Nachahmerinnen finden, die nicht (nur) ihre männliche Seite entdecken, sondern höher, schneller und/oder weiter als die anderen sein wollen, ist bei dem gnadenlosen Konkurrenzdruck und den Mechanismen des Sportmarktes nicht weiter verwunderlich.

Blut und Wasser „schwitzten“ auch die Radsportler im Monat Juli – insbesondere, wenn sie ihre Erfolgschancen bei der Tour de France illegal erhöht haben. Die Tour soll versauter sein als je zuvor, wird von Hans-Michael Holczer, ehemaliger Chef des Gerolsteiner Rennstalls, kolportiert: „Es gibt eine Enttäuschung bezogen auf das, was an Doping passiert, und eine Faszination, was die Tour und den Sport angeht. Und wir müssen uns von dem Glauben verabschieden, dass wir das Problem in den Griff bekommen. Man sieht es den Dopenden nicht an, dass sie entsprechende Substanzen einnehmen.“ Sein ehemaliger Schützling im Team Gerolsteiner, der geständige Doping-Experte Bernhard Kohl, gibt vor, mehr sehen zu können. Die Einspritzer unter den Cyclisten seien zumindest vom geschulten Auge deutlich von den Normalos zu unterscheiden. Wem er es ansieht, sagt der Österreicher indes nicht. Das schlimmste Symbol des Radsports sei in jedem Fall Lance Armstrong, sagt David Garcia, Autor des Bestsellers „Der große Betrug“. Pierre Ballester, Verfasser des Buches „Die dreckige Tour“, wirft den Funktionären vor, bei Armstrong immer wieder die Augen verschlossen zu haben. „Sie haben artig mit den Dopingvorwürfen gewartet, bis er seinen Rücktritt bekannt gegeben hat.“ Den Sponsoren sind die Tourgewinner seit Armstrong offenbar nicht sexy genug, das Interesse der Ökonomie wie auch der Medien an der Rückkehr des siebenmaligen Toursiegers war also immens. Für Armstrong hatten die Reporter der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten derweil fast schon Mitleid. Früher Nähmaschine, heute Kolbenfresser. Gewinnt er souverän, wird gefragt, wie das denn angehen könne, man will nun nichts in den Raum stellen, was man nicht beweisen könne, aber diese Leistungen sei doch mehr als merkwürdig, die schnelle Erholung ungewöhnlich etc. Und zeigt der Ausnahmeathlet, der er ist – gedopt oder ungedopt – eine Schwäche, dann ist es tragisch, unfassbar, wie konnte es soweit kommen, dieser tiefe Fall usw. Der Mann kann es nun auch keinem Journalisten recht machen. Perfide, sagen sie. Genau, denn so ist das Geschäft. Und warum? Weil Sie es so wollen. Denn seien Sie mal ehrlich: Wie interessant fänden Sie die Meldung, Lance Armstrong hätte nach drei Jahren als Tourist bei seinem Comeback einen beachtlichen 14. Rang erreicht? Sie wollen ihn oben auf dem Podest sehen – oder ganz unten. Als strahlenden, ungedopten Sieger oder als überführten Betrüger. Nach der Karriere will Armstrong, so munkelt man, Gouverneur in Texas werden. Das passt; die Texaner haben ein Faible für skurrile Typen. An mangelndem Selbstbewusstsein zumindest geht Armstrong nicht zugrunde.

Einen Teil meiner Kolumne schreibe ich diesmal im Spanienurlaub. Und während sich die beste aller Ehefrauen im Atlantik erfrischt, springe ich gemeinsam mit den Athleten bei der 13. FINA Schwimm-WM in Rom vom 10-Meter-Brett. Die 12 Herren, die im Finale den Weltmeister unter sich ausmachen, lassen jeden Fisch neidisch werden. Was die Herren auf zehn Metern Höhenunterschied so auerbachen und delphinieren, ist einfach nur „wunderschön“ (O-Ton Eurosport-Grimmepreisträger Siggi Heinrich). Und als der 16-jährige Chinese Qui Bo mit einem herrlichen „Köpper“, dem mehrere Schrauben vorausgingen, die Führung übernimmt, ist auch die Co-Kommentatorin Heike Fischer hin und weg: „Da kann man nichts mehr abziehen.“ Genau, denn abgezogen sind sie alle, die Starter. Kein Körperhaar zu sehen. Da wird Brüno alias Sasha Baron Cohen bemitleidet, weil er sich für seine Rolle hat ganzkörperwachsen lassen, während im Schwimmsport neben Niederlagen auch körperlich schmerzhafte Prozeduren ertragen werden müssen. Und das über Jahre. Es gewinnt schließlich ein wenig überraschend ein 15-jähriger Engländer. Ein Blick in sein Kindergesicht macht deutlich: Der hat die Schmerzen noch vor sich.

Bei den römischen Schwimmwettbewerben erleben wir eine ähnliche Berichterstattung wie beim Radsport: Gewinnt ein Schwimmer überlegen, wird reflexartig die Frage gestellt, ob diese Leistung wirklich nur auf die neuen Rennanzüge zurückzuführen ist (außer bei den Deutschen, obwohl der Fabelweltrekord von Paul Biedermann über die 200m Freistil schon eine Nachfrage wert ist). Bleibt ein Athlet hingegen im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit, wird eine enttäuschende Leistung attestiert. So versuchte der ZDF-Reporter Alexander Antoniadis Brustschwimmer Hendrik Feldwehr im Interview eine Enttäuschung anzudichten, die dieser nun so gar nicht übernehmen wollte. Für Feldwehr war es die erste Teilnahme an einer Weltmeisterschaft; er war in den Endlauf 50 Meter Brust gekommen und dort mit der zweitschnellsten Zeit, die er je geschwommen ist, Siebter geworden. An der Wende sei er doch noch Dritter gewesen, ob er denn nicht doch ein bisschen enttäuscht sein, nachdem die Medaille zum Greifen nah war. „Nein“, kann Feldwehr nur entgegen, mit Enttäuschung kann er nicht dienen. In der Tat sind wieder mal nur die eindimensionalen Fragen des ZDF-Reporters enttäuschend. Der schießt im übrigen wenig später den Vogel ab, als er die 15-jährige Schwedin Sarah Sjostrom nach dem Gewinn ihres Weltmeistertitels fragt, wie sich ihre Begeisterung für den Schwimmsport erklären lässt, schließlich spielten andere Mädchen in diesem Alter mit Puppen. Lieber Alex: 15-jährige Mädchen spielen nicht mit Puppen, außer vielleicht bei den Amischen in den USA. Obwohl ich beim Ungarn-Grand Prix der Formel 1 in Budapest erstaunt feststellen musste, dass RTL-Sportreporter Florian König dem Sieger eines Gewinnspiels (sinngemäß „Wie heißt Michael Schumacher mit Vornamen?“) eine Carrera-Rennbahn avisierte. Dann stimmt das mit den Puppen vielleicht doch.

Vielleicht ist die „Neue deutsche Welle“ wie auch die Weltrekordflut aber nicht nur auf die neuen Anzüge zurückzuführen, die im nächsten Jahr wieder verboten werden sollen, sondern auf die Fortschritte der modernen Medizin? Im Vorfeld der WM und auch während der Wettbewerbe gab es keine Bluttests; die Einnahme von Wachstumshormonen lassen sich aber nur über Bluttests nachweisen. Und da zur Zeit ohnehin jeder DLRG-Schwimmer mit dem entsprechenden Anzug einen Weltrekord schwimmen kann, verschwimmen die Grenzen zwischen dem Möglichen und dem „eigentlich“ Unmöglichen. Einer, der seit Jahren „scheinbar“ Unmögliches leistet, ist der Amerikaner Michael Phelps. Der 24-jährige Ami verzichtete darauf, Biedermann nach dessen Sieg im Becken zu gratulieren, und für die LA Times war gleich klar, wie die Leistung des Deutschen zustande kam, schließlich war er bislang ein „anonymer Schwimmer mit bescheidenen Ergebnissen.“ (www.latimes.com/sports/la-sp-world-swimming3-2009aug03,0,5878808.story) En passant: Biedermann ist Europameister, Europarekordler und Kurzbahn-Weltrekordler. Phelps hat einen Tag nach der Niederlage gegen den Deutschen seinen Weltrekord über 200m Schmetterling pulverisiert. Und das nach nur sechs-monatiger Vorbereitung und ohne (!) High-Tech-Anzug. Der Nationalstolz hat ihn offensichtlich über das Wasser getragen. Und das soll man nun, wie Josef Kelnberger in der Süddeutschen Zeitung schreibt, ganz normal finden.

Diskus-Vizeweltmeister Robert Harting plädiert ohnehin für eine einfache Lösung, mit der sich bereits vor Jahren Olympiasieger und Diskus-Heroe Rolf Danneberg in die Schlagzeilen philosophierte. Dem „Mannheimer Morgen“ sagte Harting: „Wo Geld ist, wird gedopt. Eigentlich ist es sinnlos, gegen diese Tatsache anzukämpfen. Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser wäre, Doping in irgendeiner Form zu erlauben, so knallhart sich das auch anhören mag. Dann würde sich zumindest niemand mehr darüber aufregen.“ (http://newsticker.sueddeutsche.de/list/id/684999) Aber wir regen uns doch so gerne auf. Und am Liebsten über solche Vorschläge. Vielleicht spielen ja in einigen Jahren die 15-jährigen jungen Frauen nicht nur wieder mit Puppen, sondern müssen sich nach Einnahme männlicher Hormone auch rasieren. Hartings Vorschlag ist also mehr als nur eine Idee, es ist das Ideal der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Und der Sport: vorneweg!

Der Hamburger Sportsoziologe Dr. Markus Friederici berichtet in einer monatlichen Kolumne über das Sportgeschehen.