Betrug hat sich in vielen Spitzensportarten längst als Teil des Systems etabliert - nach dem Motto: Erlaubt ist alles, womit man nicht erwischt wird.

Irgendwann waren sie der ständigen Treterei überdrüssig, müde, erschöpft und hungrig zugleich. Am späten Abend steuerten sie den nächsten Bahnhof an, stoppten an einem Bistro, schulterten ihre Fahrräder und ließen sich im letzten Waggon des ankommenden Nachtzuges nieder. Nach etwas mehr als 100 Kilometern stiegen sie wieder aus, kehrten im Morgengrauen in den Sattel zurück und setzten ihre Tour auf der Provinzstraße fort.

Das ist nicht die Geschichte einer lustigen Landpartie, diese Begebenheit erzählt von den Anfängen der Tour de France, der zweiten Austragung des Grand Boucle, der Großen Schleife. Man schrieb das Jahr 1904. Dem siegreichen Franzosen Maurice Garin und seinen drei Weggefährten waren im Ziel die Strapazen kaum anzusehen. Monate später flog der Betrug auf. Garin und seine Mitreisenden wurden gesperrt, der Fünftplatzierte Henri Cornet zum Gewinner gekürt. Le Tour hatte ihren ersten großen Skandal.

An diesem Sonnabend wird die 96. Auflage der schwersten Radrundfahrt der Welt in Monaco gestartet (Bericht Seite 31). Sie dauert bis zum 26. Juli. Die letzte Wegstrecke führt traditionell nach Paris. Der Sieger steht für den ehemaligen Profi Bernhard Kohl bereits fest. "Es wird ein Gedopter sein", sagt der 27 Jahre alte Österreicher. Er sollte es wissen. Der damalige Kapitän des deutschen Teams Gerolsteiner erreichte im vergangenen Jahr als Dritter die französische Hauptstadt - mit dem gepunkteten Trikot des besten Bergfahrers. Kohl hatte keine Abkürzung genommen, dafür zuhauf Medikamente, bevorzugt Wachstumshormone und Epo, die derzeit wirksamsten Treibstoffe für Beine und Lungen. Bei den Tests während der Tour hatte er kein Wässerchen trüben können, erst bei Nachuntersuchungen zweieinhalb Monate später fielen Kohl und sein deutscher Mannschaftskollege Stefan Schumacher auf. Kohl diente sich den Ermittlern als Kronzeuge an und half, ein Dopingnetzwerk zu enttarnen.

Betrug im Sport hat System. Schon bei den Olympischen Spielen der Antike glaubten die Athleten, Kraft und Ausdauer durch den Verzehr von Stierhoden und Löwenherzen steigern zu können. Anfang des 20. Jahrhunderts kamen Kokain, Koffein, Morphin und andere Opiate in Mode, von den 60er-Jahren an gerieten Anabolika zum Mastmittel einer ganzen Generation von Leistungssportlern. Heute sind synthetische Drogencocktails und Eigenblutdoping die Renner, die Tür zur Genmanipulation scheint längst geöffnet. Wer siegen will, hat keine Wahl.

Für den professionellen Hochleistungssport mit der Maxime schneller, höher, stärker - das größte biologische Experiment in der Geschichte der Menschheit - verlaufe die Evolution viel zu langsam, hat der emeritierte Kölner Sportmediziner Professor Wildor Hollmann festgestellt. Männer und Frauen stoßen durch intensives Training relativ schnell an ihre körperlichen Grenzen. Um sie zu überwinden, und genau das fordern Verbände und Veranstalter, ist vielen jedes Mittel recht, auch um den Preis schwerer gesundheitlicher Schäden.

Doping kann tödlich sein, doch Warnungen dieser Art halten bekanntlich keinen Raucher von der Zigarette ab. "Großer Sport fängt dort an, wo die Gesundheit aufhört", hat Bertolt Brecht gesagt. Wichtiger noch ist eine andere seiner Erkenntnisse: Fressen - in diesem Zusammenhang siegen - kommt vor der Moral.

Mit der Moral aber sei das so ein Problem, meint der Hamburger Sportsoziologe Dr. Markus Friederici: "Viele soziale Gruppen geben sich ihre eigene Moral, die oft im Gegensatz zu der auch von ihnen anerkannten gesellschaftlichen Ethik steht." Betrug ist in Deutschland ein akzeptierter Straftatbestand, ethisch verwerflich. Das ist Allgemeingut. Versicherungsbetrug und Steuerhinterziehung dagegen werden selten moralisch geächtet, obwohl die Folgen alle spüren; in Form höherer Steuern oder höherer Beiträge. Beide Delikte genießen bei vielen den Charme des Kavaliersdelikts.

Auch die Gruppe der Leistungssportler hat ihre eigenen Gesetze und damit ihre eigenen Zwänge. Wer in der Spitze mitmischen will, wer um Medaillen und Sponsoren kämpft, muss sich an Regeln halten, nicht an die geschriebenen, sondern an die praktizierten. Und die schließen Doping ein.

Doping ist in bestimmten Kreisen von Athleten höchst moralisch. Alles sei erlaubt, womit man nicht erwischt werde, hat der deutsche Springreiter Ludger Beerbaum formuliert. Beerbaum hat mit seinen Pferden vier Goldmedaillen bei Olympischen Spielen gewonnen. Die fünfte wurde ihm 2004 in Athen aberkannt - wegen Medikamentenmissbrauchs. Für seine (ehrliche) Äußerung wurde der 45-Jährige von der Deutschen Reiterlichen Vereinigung (FN) suspendiert. Abschreckend wirkte das nicht. Die fünfmalige Dressur-Olympiasiegerin Isabelle Werth (39) ließ ihr Nachwuchspferd weiter mit verbotenen Substanzen behandeln. Als das bekannt wurde, trennte sie sich von ihrem Schweizer Tierarzt Hans Stihl. Otto Becker, der Bundestrainer der Springreiter, will an Stihl festhalten. Schließlich habe der immer gute Arbeit geleistet.

"Ich habe niemanden betrogen", hat auch Jan Ullrich stets gesagt, wenn er des Dopings bezichtigt wurde. Wahrscheinlich hat er recht, "denn abweichendes Verhalten, sprich Doping", so Friederici, "scheint im Radsport die Regel und nicht die Ausnahme zu sein. Ullrich hätte sich also, sollte er gedopt haben, in Bezug auf die Moral in der Gruppe der Berufsradfahrer normenkonform verhalten." Der heute 35-Jährige hat 1997 als bisher einziger Deutscher die Tour de France gewonnen. 2006 musste er vom Rad steigen, als ihm beim Madrider Dopingarzt Eufemiano Fuentes neun Blutbeutel zugeordnet werden konnten. Alle Indizien haben bis heute weder zu einer Verurteilung noch zu einer Sperre geführt. Seine Karriere hat er trotzdem beendet.

Der größte Teil seiner verdächtigen Kollegen blieb im Geschäft. Auch der siebenmalige Sieger Lance Armstrong (37), der jetzt sein Comeback gibt.

Doping und andere Arten des Betrugs sind von Sportverbänden jahrzehntelang nicht nur geduldet worden, sie wurden oft auch klammheimlich gefördert. Die Erfolge der Athleten haben für Organisationen und Funktionäre ähnlich existenzielle Bedeutung: staatliche Fördermittel, Sponsoreneinnahmen und Fernsehverträge. Wer Missstände anprangert, wird zum Nestbeschmutzer, der Ehrliche zum Dummen, der Übeltäter zum Einzelfall. Das System stützt und schützt sich selbst, Einblicke gibt es nicht. Diese bigotte Logik praktizierte das inzwischen aufgelöste Radteam Telekom in Perfektion. Öffentlich befeuerte es unter dem Beifall von Medien und Staat den Antidopingkampf, in Freiburg verschickten gleichzeitig die Mannschaftsärzte Lothar Heinrich und Andreas Schmid mit Geldern aus dem Antidopingfonds Dopingmittel per Kurier.

Beispielhaft verläuft auch die Affäre um angebliche Schiedsrichterbestechungen des deutschen Handball-Rekordmeisters THW Kiel in der Champions League. Die Handball-Bundesliga (HBL) bestätigte vor zehn Tagen Reiner Witte als ihren Präsidenten. Der Rechtsanwalt ist ein Freund des inkriminierten und im April geschassten Kieler Managers Uwe Schwenker. Witte hatte aus persönlichen Motiven die Aufklärung eher behindert als unterstützt. Am Pranger stehen nun andere: HSV-Handball-Präsident Andreas Rudolph und Jesper Nielsen, Gesellschafter des Bundesligaklubs Rhein-Neckar Löwen, die Schwenker vor der Kieler Staatsanwaltschaft schwer belastet hatten. Das verübelt ihnen sogar der Präsident des europäischen Handballverbandes EHF, der Norweger Tor Lian. The games must go on, aber bitte störungsfrei.

Diese Einstellung gefällt den Fernsehanstalten. Probleme drücken Quoten, Dopingdiskussionen verschrecken das Publikum. Den Spagat zwischen Aufklärung und Unterhaltung haben ARD und ZDF bei der Tour de France schmerzvoll lernen müssen. Bei anderen Sportarten reagieren die Sender rigider. Den deutschen Reitern drohten sie jüngst mit dem Entzug der Kameras, sollten sie weiter ihren Pferden mit Hilfsmitteln auf die Sprünge helfen. Die Reiterliche Vereinigung löste daraufhin ihre Nationalkader auf. Ihre Macht setzen die Öffentlich-Rechtlichen allerdings nur dort ein, wo der Druck der Privaten fehlt. Die Furcht, dass Konsequenz die Konkurrenz belebt, nennt man wohl Doppelmoral.

Sylvia Schenk ist die Vorsitzende der Antikorruptionsorganisation Transparency International Deutschland. Im "Tagesspiegel" schrieb die frühere Präsidentin des Bundes Deutscher Radfahrer: "Wäre die Siemens AG der Korruption in den eigenen Reihen so begegnet wie der Radsport der Dopingproblematik und aktuell der Handball den Bestechungsvorwürfen, hätte sie zunächst alles für unzutreffend erklärt und sich dann entsetzt über die Einzeltäter gezeigt. Selbstverständlich wären alle, die die Staatsanwaltschaft überführt hatte, aus dem Betrieb entfernt - und nach dem Absitzen der Strafe wieder eingestellt worden. Es kam zum Glück anders. Bei Siemens wurde die Führungsspitze komplett ausgetauscht und alle Strukturen umgekrempelt. Das war Null-Toleranz-Politik von oben mit klaren Signalen." Im Radsport und anderswo sei man noch lange nicht so weit.

Die Zuschauer stört es nicht. Die Begeisterung für den Leistungssport scheint ungebrochen, wie die Sehnsucht nach nationalen Erfolgen. Genau wissen, was hinter den Tribünen geschieht, wollen die meisten ohnehin nicht. Betrug ist im Sport kein Phänomen kleiner Eliten. In den Anfängen des Hamburger Marathons, als noch kein Chip im Schuh Zeiten und gelaufene Kilometer signalisierte, traf man wiederholt Teilnehmer des Rennens in der U-Bahn. Sie fuhren zum Ziel. In der Nähe des Fernsehturms reihten sie sich wieder ins Feld ein. Selbstbetrug ist nicht strafbar. Dass aber der Schein das Bewusstsein bestimmt, kann auf Dauer die ethischen Grundpfeiler einer Gesellschaft zerstören.