Der Hamburger Sportsoziologe Dr. Markus Friederici blickt in seiner monatlichen Kolumne auf das Sportgeschehen zurück.

Hamburg. Nach dem Tod von Robert Enke sollte alles anders werden. Na ja, zumindest einige Dinge. So sollte es wieder menschlicher zugehen im Haifischbecken Fußball-Bundesliga. Und es sollte honoriert werden, wenn ein Spieler zeigt, dass er nicht (mehr) so funktioniert, wie es das System Leistungssport verlangt. Und die Verantwortlichen in Liga und Vereinen wollten „den Druck 'rausnehmen“ und „sensibel werden für Zeichen der Überbelastung“.

Doch was hat sich geändert? Nichts. Wenig. Sicher, einige ehemalige Fußballgrößen haben berichtet, ebenfalls depressiv gewesen zu sein. Aber was ist mit denen, die noch Teil des Systems sind? Kein Depressiver hat um Hilfe gebeten, kein Homosexueller sich geoutet und kein Spielsüchtiger angekündigt, eine Therapie zu beginnen. Und das war auch nicht zu erwarten. Denn wie auch bei der Doping-Problematik liegt der Fehler im System, und nicht bei einzelnen Akteuren. Und wenn sich im System nichts verändert, werden auch die Akteure ihr Verhalten und ihre Routinen nicht (signifikant) ändern.

Ex-CDU Generalsekretär Heiner Geißler erklärte unlängst, dass nicht nur der Sozialismus, sondert auch der Kapitalismus gescheitert sei. Das Geld regiere das Handeln der Menschen, und nicht der Mensch das Kapital. Nun basiert die Funktionsfähigkeit der freien Marktwirtschaft auf dem Prinzip des stetigen Wachstums. Und da auch das System Leistungssport ökonomischen Prinzipien folgt, werden Veränderungen, die das Wachstum in Frage stellen könnten, nicht geduldet. So setzen sich in einem solchen System letztlich diejenigen durch, die am besten angepasst sind. Survival of the fittest. Das Aus für das „Outen“. Darwin lässt grüßen.

Auch im Kontext der Doping-Bekämpfung grüßt das Murmeltier. Doping ist nach wie vor Teil des Spitzensportsystems – trotz Anti-Doping-Proklamationen, Verbesserungen in den Kontrollsystemen, Verglasung der Athleten, Skandalisierung in den Medien, sozialer Exklusion und gesellschaftlicher Ächtung schwarzer Schafe. Geändert hat sich nichts wenig, da auch hier das Problem individualisiert wird – und somit die strukturellen Schwächen im System ausgeblendet werden. Dennoch: Jedes System bringt Vor- wie auch Nachteile mit sich. Schließlich sind die Interessen derer, die Teil eines Systems sind, oftmals nicht kompatibel. So handelt es sich bei dem Szenario eines dopingfreien Sports um eine Utopie, die sich in dem über Organisationen und Institutionen weltweit vernetzten Sportsystem nicht umsetzen lässt. Dennoch kann durch gezielte Maßnahmen, die ich in der Februar-Kolumne bereits dargestellt habe, das Doping effizienter bekämpft werden. Dennoch ist Doping als Mittel zur Erlangung eines Wettbewerbsvorteils Bestandteil eines Systems, das nicht nur nach Siegern und Verlierern unterscheidet, sondern die Sieger mit allerlei Erstrebenswertem belohnt: Geld, Prestige, Medienpräsenz, Anerkennung und Glorifizierung. So wird das Jahr 2010 noch nicht alt sein, wenn die Medien über den nächsten spektakulären Doping-Fall berichten werden.

Gespannt sein darf man lediglich darauf, zu welcher Gruppe der betroffene Athlet zählen wird: So gibt es die Büßer, die Relativierer und die Empörten. Die ersten beiden Gruppen geben die Einnahme von Doping-Substanzen zu, wobei die Büßer (meist unter Tränen) ihre Verfehlung einräumen und bereit sind, die Konsequenzen zu tragen, während die Relativierer das Doping zwar zugeben, aber rechtfertigen. Die Maxime dieses Typus' lautet: „Regt euch ab, Leute, machen doch alle. Nur: Mich haben sie erwischt (die Schweine).“

Telekom-Radprofi Udo Bölts zählt zu den Relativierern („Das System war halt so, wenn man vorne mitfahren wollte, musste man dopen“), Sprint-Olympiasiegerin Marion Jones zu den Büßerinnen („Was hab' ich da nur gemacht. I'm sooooo sorry. Schluchz“) und Radfahrer Jan Ullrich zu den Empörten („Ich habe nie betrogen, und das ist ganz groß“). Die Empörten streiten die Einnahme von Dopingmitteln kategorisch ab. Nie hätten sie so etwas getan. Daher werden Unregelmäßigkeiten nach Doping-Kontrollen auf a.) schlampige Erkenntnismethoden und Verfahren, b.) körpereigene Absonderlichkeiten wie beispielsweise einem chaotischen Hormonhaushalt oder c.) Manipulation von tatsächlichen oder imaginierten Feinden zurückgeführt.

Leichtathlet Dieter Baumann, der nach wie vor beteuert, man hätte seine Zahnpasta-Tube mit leistungssteigernden Wirkstoffen präpariert, um seinen Ruf zu zerstören, gehört demnach zu den Empörten Feindbildkonstrukteuren. Eisschnellläuferin Claudia Pechstein ist ein komplizierter Fall. Sie zählt zu den Empörten Verfahrenskritikern („unwissenschaftliche Beweisaufnahme“), Körperinfragestellern („Mein Body macht, was er will, ich hatte schon immer so hohe Ausschläge“) und Feindbildentwicklern („Die Verbände wollen mich fertig machen“).

Fertig hat und fertig ist auch Nürnbergs Fußballtrainer Michael Oenning. Der Übungsleiter wurde nach einer Niederlagenserie im Dezember vor die Tür gesetzt. Wir wussten insgeheim, dass es so kommen musste, schließlich kennen wir die Mechanismen des Marktes und die Logik der Funktionäre. Und wissen um die Schwächen eben jener Logik. Wäre nämlich der Trainer miserabel, würde er ja auch bei einem anderen Verein keinen Erfolg haben. Doch genau das wird im Laufe einer Saison oftmals widerlegt. Und so dürfte die Ursachenforschung eigentlich nicht immer und ausschließlich beim Trainer enden. Aber auch hier zeigt sich das (nicht nur, aber auch) im Sport dominante Prinzip der Personalisierung – anstatt Verein, Mannschaft, Trainer und Umfeld als System zu begreifen und die Fehler in Abläufen und Interaktionsmustern zu suchen, wird einer herausgepickt, der die Fehler auszubaden hat. Noch immer wird zu wenig aus Fehlern gelernt. So kann kein Schaden klug machen.

Auch aus den Wettbüros grüßt zum Jahresausklang erneut das Murmeltier. Im Fokus ist erneut das Brüderpaar, das in Berlin einen Imbiss betreibt. Sie waren bereits vor einigen Jahren Hauptdarsteller in der Fußball-Korruptionsschmonzette. Wieder sind Partien verschoben worden. Ein Spieler hat mittlerweile eine Kontaktaufnahme bestätigt; seine technisch limitierten Abwehrversuche, die zu Gegentoren führten, seien aber ausschließlich auf fußballerische Defizite zurückzuführen. Dass das Ergebnis dann doch so eingetreten sei, wie verabredet, sei purer Zufall. Da glaube ich dann doch eher die Zahnpasta-Story von Dieter Baumann. Übrigens: Noch immer hört man auf Amateurplätzen bei strittigen Schiedsrichterentscheidungen den Ausruf „Hoyzer“. Insbesondere die Akteure auf dem Platz und am Rand des Platzes sollten allerdings eines bedenken: „Die Titulierung Hoyzer (…) gilt speziell im Fußball für einen Schiedsrichter, der angeblich eine falsche Entscheidung getroffen haben soll. Im Sport gilt sie als Schiedsrichterbeleidigung und kann somit persönliche Strafen gegen den Täter (Feldverweis für Spieler, Bankverweis für Trainer, Geldstrafen) oder auch Ordnungsmaßnahmen gegen einen Verein nach sich ziehen.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Hoyzer). Ich rate daher zur Modifikation: „Robby“ könnte als Kosename interpretiert werden und somit die eigentliche Wirkung verfehlen. Wie wär's denn mit „Holzer“? Hat auch so 'was Rustikales.

Der Murmeltier-Award geht 2009 an unseren Formel 1 Helden „Mischal“ Schumacher. Der Berufsschnellfahrer hatte 2006 seinen Rücktritt bekannt gegeben, um 2009 nach einem Rennunfall seines einstigen Teamkollegen Felipe Massa zu erklären, er würde sich wieder in das Cockpit eines Boliden zwängen. Also: Rücktritt vom Rücktritt. Doch die Ärzte traten auf die Bremse. Schumis Nackenpartie sei nach einem Trainingssturz mit dem Moped (noch) nicht stabil genug. Ergo: Rücktritt vom Rücktritt vom Rücktritt. Und zum Ende des Jahres verkündet Mercedes nun, unser Schumi starte in der nächsten Saison die Schwaben. Rücktritt vom Rücktritt vom Rücktritt vom Rücktritt. Mehr Murmeltier geht nicht.

Ein Dauerbrenner ist auch das asiatische Mulmeltiel Noriaki Kasai. Der Skispringer startete am 29.12. zum 19. Mal bei der Vierschanzentournee – und zog sich beim ersten Springen in Oberstorf mit einem 13. Platz beachtlich aus der Affäre. Die Deutschen flogen hinterher, der einstige Überflieger Maddien Schmitt kam nach dem ersten Sprung lediglich als lucky loser weiter. Wäre auch ein schöner Buchtitel zum Ende seiner Karriere.

Noch'n Murmeltier: 2009 schaffte es der Barde Jürgen Drews, Interpret des Sommerhits „Ein Bett im Kornfeld“, in die Sportnachrichten. Ein' Korn im Feldbett hatte offensichtlich der verantwortliche Redakteur des „Sportinformationsdienstes“ gehoben, als er beim DFB-Pokal-Spiel zwischen dem VfL Wolfsburg und Hansa Rostock Jürgen Drews als Schiedsrichter vermeldete. Onkel Jürgen streunerte zu jener Zeit aber in El Arenal umher; die Partie leitete indes (Dr.) Jochen Drees.

Für mich begann das Jahr mit der „Hamburger Hallenmeisterschaft 2010“. Es war definitiv das allererste Sportereignis des neuen Jahres, fand es doch am 29.12.2009 statt. Ich weiß also jetzt schon, wer 2010 Hamburger Hallemeister sein wird. Jede Wette.

Zu guter Letzt möchte ich mich bei Ihnen für das Feedback zu meinen Kolumnen bedanken. Ihre Reaktionen haben mir gezeigt, dass ich die eine oder andere Diskussion anstoßen konnte. Was will man mehr? Mit den Olympischen Winterspielen, der Fußball-WM, den Olympischen Jugendspielen, den Asienspielen, den Commonwealth Games, der Olympiabewerbung und Vergabe von zwei Fußball-Weltmeisterschaften wird es auch im nächsten Sportjahr einiges zu berichten geben. Und schauen Sie doch 'mal wieder 'rein! Und kommen Sie gut in's Neue Jahr!