Hoffentlich treffe ich Jan Gustafsson. Nicht, weil er für Deutschland bei der Schach-Olympiade in Dresden antritt. Auch nicht, weil er Hamburger ist und für den HSK in der Schach-Bundesliga spielt. Und auch nicht, weil ich sonst nichts zu tun hätte.

Vor zwei Tagen saß ich gemeinsam mit meinen Mitarbeitern vom Institut für Sportwissenschaften der TU Chemnitz, Peter Ehnold und Regina Roschmann, vor dem Computer und verfolgte live das Match zwischen Gustafsson und dem russischen Elo-Weltranglistenzweiten Alexander Morosewitsch. Das Länderduell stand zur Überraschung aller Experten 1,5:1,5 Schachgoliath Russland war mit vier Akteuren angereist, die allesamt in den Top 30 der Welt zu finden sind, Deutschlands "Bester" in den Wertungslisten, Arkadij Naiditsch, findet sich gerade mal auf Platz 44 wieder. Und dennoch trotzten Naiditsch (gegen Vizeweltmeister Kramnik), Fridman (gegen Jakowenko) und Kenkhin (gegen Grischuk) ihren Kontrahenten bereits ein Unentschieden ab. Die Sensation lag in der Luft, selbst ein Remis und das daraus resultierende 2:2-Unentschieden wäre für Deutschland ein enormer Erfolg und Prestigegewinn. Dann der 35. Zug, das Remis ist greifbar nahe und somit auch der Gleichstand insgesamt. Da wir die Partie live im Internet verfolgen, zeige ich meinen Mitarbeitern, welchen Zug Gustafsson nun machen wird, um das Remis zu erzwingen. Gespanntes warten. Dann verlischt das triumphierende Lächeln auf meinem Gesicht; Gustafsson hat sich anders entschieden. Am Ende wird die Partie nach 102 (!) Zügen mit einem Remis beendet sein, lediglich drei Steine befinden sich dann noch auf dem Brett, König und Bauer des Russen und der König des Deutschen. Bis zu eben jenem 102. Zug hatte Gustafsson Gelegenheit, ein Remis anzubieten und den Sack zuzumachen (ein wenig Fußballersprache sei auch in dieser Sportart erlaubt) so zumindest stellte sich die Situation für mich als interessierten Laien dar. Ich musste also etwas übersehen haben, nur: was? Diese Frage stellten wir uns nun, und beantworten sollte sie, so nahm ich mir vor, kein Geringerer als Gustafsson selbst. Da ich ohnehin noch einige Interviews führen wollte, um die Erhebung zu komplettieren, die wir während der Schach-Olympiade bezüglich der Wirksamkeit des Marketing-Konzeptes durchführen, wollte ich den Großmeister persönlich fragen, wieso die Partie so lange gedauert hat. Ich reiste am Dienstagabend nach meiner Vorlesung an der Tag war spielfrei, und ich hoffte, die Spieler seien da eher erreichbar als an den übrigen Tagen. Was machen Spieler eigentlich, wenn sie spielfrei haben? Von Fußballern wissen wir, dass sie sich gerne mal die Playstation anwerfen oder sich zu Zeiten Netzers, Beckenbauers und Breitners nach einbrechender Dunkelheit vom Trainingsgelände schlichen, um das eine oder andere Bierchen zu verköstigen. Ein freundliche Dame im Vip-Bereich gibt mir Auskunft: "Ich weiß nicht, was die Spieler heute machen, aber hier werden sie sie bestimmt nicht finden." Während Sie das sagt, geht Gata Kamsky, amerikanischer Top-Spieler, an uns vorbei. "Danke für die Info." Es besteht also Hoffnung, und so schaue ich im Turniersaal vorbei, in dem der Deutschland-Cup, eine der Parallelveranstaltungen zur Schach-Olympiade, erstmals ausgetragen wird. Unwahrscheinlich Gustafsson hier zu treffen, aber nicht unmöglich. Ich schlendere durch die Gänge zwischen den Brettern und schaue mir Partien und Gesichter an. Dann zucke ich zusammen: In meiner linken Jackettasche steckt mein Handy, Klingelton auf volle Lautstärke. Wenn meine Frau, die Kinder oder sonst wer in diesem Moment anrufen würde, entstünde einen Situation, die ich meinen Lebtag nicht vergessen würde. Ich fingere also mein Handy aus der Tasche und will gerade die Funktionstasten entsperren, als mir einfällt, dass das ja auch piepsende Geräusche nach sich ziehen würde. Langsam lasse ich das Gerät zurückgleiten und mache mich schnellen Schrittes auf den Weg zu einem der Ausgänge. Unendliche 100 Meter sind zurückzulegen. Dann ist es geschafft. Durchatmen. Genug der Spurensuche für heute, morgen starte ich den nächsten Anlauf. Der nächste Tag beginnt mit einem Frühstück am Tisch der mauritianischen Nationalmannschaft der Herren. Die Folgen von Kolonialzeit und Zuwanderung spiegeln sich in der Zusammensetzung des Teams wider: Die Spieler haben englische, indische und chinesische Wurzeln, sprechen Englisch, Französisch und Kreolisch und schwärmen von der Eröffnungsfeier der Spiele. Ich berichte, dass eine überregionale Tageszeitung die Feier als "dröge" beschrieben hätte, was großen Protest hervorruft. Die Eröffnungsfeier sei eine der Schönsten der jüngeren Geschichte gewesen, vergleichbar nur mit der Feier 1986 in Dubai. Zeigt sich hier etwa erneut eine der Eigenschaften, die man den Deutschen im Ausland nachsagt immer auf das zu schauen, was nicht so gut läuft? Team Mauritius zumindest war begeistert und die anderen Nationen, wie sie versichern, seien es auch gewesen. Für Roy Phillips, Spitzenspieler der Mauritianer, ist es die vierte Schach-Olympiade. Er schätzt besonders die Atmosphäre, wenn er den Spielsaal betritt, die konzentrierte Spannung, die Energie. Für ihn ist Schach Kunst; auf den 64 Feldern entsteht eine Art Gemälde, sagt er, an dem zwei Akteure qua Gedankenkraft arbeiten und gemeinsam ein Kunstwerk erschaffen.

Ich nutze die Gelegenheit, um nachzufragen, ob die Spieler die Partie des Deutschen Gustafsson gegen Morosewitsch verfolgt hätten und mir die Frage beantworten könnten, warum die Partie nicht schon früher mit Remis endete. Es habe sich nicht angeboten, so die Mauritianer, zumindest nicht für Morosewitsch. Dann verabschiedet sich das Team von mir, nicht ohne mir Informationen über die Insel zuzustecken, und macht sich auf den Weg zu einer Sightseeing-Tour. Es half alles nichts, ich musste mich weiter auf die Suche nach einer Erklärung für das Mammutmatch begeben. Und wenn schon nicht Gustafsson, so würde mir doch ein anderer Spieler aus dem deutschen Team Auskunft geben können. Ich versuchte mein Glück erneut im Turniersaal, in dem mittlerweile die nächste Runde des Deutschland-Cups lief. Mein Handy hatte ich zusammen mit meiner Regenjacke, die man die Tage über hier in Dresden benötigt, an der Garderobe abgegeben. An Brett 3 entdecke ich Dr. Hauke Reddmann vom SK Wilhelmsburg von 1936. Ein Hamburger, der mir sicherlich etwas zur Partie von Gustafsson sagen kann, also warte ich geduldig, bis das Spiel beendet sein wird. Zeit, ein wenig die einzigartige Atmosphäre einzufangen. Einzigartig, da sich nahezu 1000 Menschen im Saal befinden, und dennoch über Stunden Stille herrscht. Nur gelegentlich ein Hüsteln, ein Schnäuzen, ein geräuschvoller Treppenaufstieg. Ein Stift fällt zu Boden. Um das Warten zu verkürzen, will ich das Seniorenturnier in der obersten Etage besuchen. Ein älterer Herr, der sich auf einen Gehstock stützt, kommt aus dem Fahrstuhl, dreht sich aber bereits in der Tür wieder um. "Verfahren", sagt er lapidar. Auf dem Weg nach oben frage ich ihn, ob er als Spieler oder Zuschauer hier sei. "Spieler", sagt er. "Und", frage ich, "waren Sie erfolgreich?" "Wie man es nimmt", antwortet er. "Ich hatte eine Erfolgsstellung, aber mein Gegner war ein Vereinskamerad, recht alt uns sehr zittrig, und er hatte nur noch 20 Minuten für 20 Züge. Ich habe es nicht übers Herz gebracht und die Partie abgeschenkt." Dann öffnet sich die Fahrstuhltür, er verabschiedet sich höflich und lässt mich nachdenklich zurück. Dr. Reddmann hat die Partie mittlerweile beendet, und ich frage ihn zunächst nach seiner Partie. "Verloren", sagt er, "sieht man mir das nicht an?" Und die Partie Gustafsson gegen Morosewitsch, ob er sie gesehen habe, frage ich. "Nein", antwortet er, "das interessiert mich ohnehin nur am Rande." Ich beschließe, mein Glück am Nachmittag zu versuchen. Wenige Stunden später stehe ich erneut vor einer der Flügeltüren, die den Vorraum vom Saal abtrennen. Zwei farbige Schilder an der Tür verweisen darauf, wem hier der Eintritt gewährt wird. Wer mal ein größeres, sportliches Event besucht hat, weiß, dass nicht alle Besucher gleiche Rechte genießen. Hier zeigt sich wieder der Sport als Mikrokosmos der Gesellschaft: Die einen dürfen mehr, die anderen weniger. Und nach außen werden diese unterschiedlichen Rechte durch die Akkreditierung in Form einer um den Hals baumelnden Karte dokumentiert. So gibt es auf den ersten Blick nicht Spieler und Zuschauer, Sponsoren und Konsumenten, Funktionäre und Politiker, sondern Grüne, Rote und Weiße. Die Grünen dürfen in den Zuschauerbereich, aber nicht in die Gänge zwischen den Spielbrettern. Da dürfen die Roten hin, aber nur bis zum VIP-Raum. Die Weißen dürfen sich alles erlauben. Was fällt uns noch zu den Farben grün, weiß und rot ein? Richtig: Bulgarien. Was macht eigentlich der in der Elo-Weltrangliste führende Bulgare Wesselin Topalow? Im Spiel gegen Deutschland II war er nicht im Einsatz, und prompt verloren seine (dennoch höher eingeschätzten) Mannschaftskollegen gegen das deutsche Nachwuchsteam. Topalow sitzt in der ihm typischen Pose, den Kopf in Hände gestützt, an Brett 1 und kämpft gegen den Rumänen Liviu-Dieter Nisipeanu. Schräg gegenüber sitzen die Chinesen und ringen mit den Georgiern um die Hoheit auf dem Brett, dort die starken Armenier, und am äußeren Rand des Spielareals zieht gerade die Ungarin Judit Polgar, eine der wenigen Frauen, die es mit den spielstärksten Männern aufnehmen kann und daher im "offenen" Wettbewerb und nicht im Damenteam für ihr Land an den Start geht. Da ich "Weißer" bin, nutze ich die Gelegenheit, um zwischen den Brettern Beobachtungen anzustellen, die für unsere Studie zum Thema "Emotionen und Schach" relevant sind. Erstes Fazit: Ein emotionaleres Sport-Event als die Schach-Olympiade habe ich bislang noch nicht erlebt. Die Spieler entwickeln mitunter extreme Emotionen, dürfen sie aber nicht zeigen. Im Verlauf einer Partie können Wut und Aggressionen entstehen, ausgelöst durch das Verhalten oder das Spiel des Gegners, die eigene Leistung oder auch die situativen Rahmenbedingungen. Und all das, was sich da aufstaut, auch an positiven Emotionen, wenn sich beispielsweise eine Gewinnstellung herauskristallisiert, darf seinen Weg nicht nach außen finden, um den Gegner keinen psychologischen Vorteil zu verschaffen. Wie schafft man das, habe ich den mauritianischen Spitzenspieler gefragt. "Es gibt nur eine Möglichkeit", sagt er, "bleib ruhig und mach den bestmöglichen Zug. Das ist alles." Wer die Spieler (und Spielerinnen) über einen längeren Zeitraum beobachtet, ist beeindruckt, wie sie diese Maxime verinnerlicht haben. Fußballspieler und -trainer, die verbal regelmäßig entgleisen, sollten sich einmal das eine oder andere Schachspiel anschauen. Würden sie danach ihr Verhalten noch immer damit entschuldigen, sie hätten nicht anders gekonnt als zu treten, spucken, pöbeln oder beleidigen - die Emotionen hätten halt herausgemusst? Ich weiß - andere Sportart, kann man nicht miteinander vergleichen. Kann man nicht? Felix Magath, Trainer des Fußball Bundesligisten VfL Wolfsburg, macht es dennoch und sieht viele Parallelen zwischen dem Fußball und dem Schachspiel Taktik und Strategie sind die zentralen Elemente beider Sportarten, zudem müssen auf beiden Feldern die Figuren gut aufeinander abgestimmt sein, damit sich der Erfolg einstellt. Magath eröffnet das erste Olympia-Match des Tages, Kramnik gegen Short Russland gegen England. Ich hefte mich an seine Fersen, um ein Interview zu bekommen, doch schon ist er in einem Pulk von Fotografen verschwunden, der sich langsam Richtung Ausgang schiebt. Obwohl: Schieben ist nicht der richtige Ausdruck. Da es einige von meiner Sorte (Weiße) gibt, zudem Trainer, die die Züge ihrer Schützlinge beobachten und Spieler, die sich kurz ablenken wollen und bei anderen Partien zuschauen oder die Beine vertreten wollen, ist es auf den Gängen recht voll. Man kann sich das Geschehen am besten vorstellen, wenn man an den Auto-Scooter vom Rummelplatz denkt nur eben ohne Auto. Da alle, die die Gänge entlang schleichen, mit mindestens einem Auge auf eines der Spielbretter schauen, eckt man ständig an. Ein Spieler aus Hongkong stoppt erst, als an Ausweichen nicht mehr zu denken ist, und eine Dame tritt mir anschließend in die Fersen und zieht mir so einen Schuh aus. Von all dem nahezu lautlosen Trubel bekommen die Akteure dennoch wenig mit, zu konzentriert sind sie auf das Geschehen, das sich vor ihnen entwickelt. Das deutsche Team spielt gegen die Ukraine auf dem Podium, Gustafsson ist vertieft in seine Eröffnung, und ich mache mich auf den Weg zur Garderobe, um Jacke und Handy auszulösen. Eine halbe Stunde später rollt der Zug, der mich nach Hamburg-Altona bringt, gemächlich am hellerleuchteten Congress-Centrum vorbei, in dem in diesen Tagen so viele Emotionen entstehen und unterdrückt, Hoffnungen erfüllt und enttäuscht, Freundschaften geschlossen und Eitelkeiten gepflegt werden. Warum die Partie Gustafsson gegen Morosewitsch nicht bereits früher mit Remis endete, habe ich nicht in Erfahrung gebracht. Ich werde in Hamburgs Schachklubs weiter fragen, und da wird man einem Laien wie mir eine solch einfache Frage wohl beantworten können. Alles andere als laienhaft präsentierten sich erneut die deutschen Herren auch am Mittwoch: Als es dunkel wurde, hatten sie auch dem Titelaspiranten Ukraine um den Spitzenspieler Wassili Iwantschuk eine Unentschieden abgetrotzt und bleibt somit in Reichweite der Medaillen. Gustafsson spielte erneut Remis. Diesmal stand das Ergebnis aber schon nach 37 Zügen fest. Ich hatte keine Fragen. Deutschland 2 verlor gegen Griechenland 1,5:2,5; Lichtblick war hier der 16-jährige Hamburger Niclas Huschenbeth, der seinen Gegner Halkios besiegen konnte, Deutschland 3 schlug Paraguay mit 3:1. Die deutschen Damenteams erwischten einen gebrauchten Tag alle drei unterlagen ihren Gegnern, Deutschland 1 mit 1,5:2,5 gegen Serbien. Die Hamburgerin Marta Michna steuerte ein Remis zum Ergebnis bei. Heute kommt es bei den Herren in der 7. Runde zur Partie Deutschland 1 gegen Rumänien ein Gegner auf Augenhöhe.

Der Hamburger Dr. Markus R. Friederici vertritt die Professur für Sportsoziologie und Sportökonomie an der TU Chemnitz.