Da wollen uns doch noch immer einige Theoretiker aus den Elfenbeintürmen der Wissenschaft weismachen, der Sport sei nichts anderes als die Gesellschaft im Kleinen.

Obwohl sich doch recht leicht belegen lässt, dass dem nicht so ist. Machen wir uns doch einmal den Spaß und übertragen eine Szene aus der Welt des Fußballs auf den beruflichen Alltag in einer Sportredaktion...

Ich komme ein wenig zu spät zur Arbeit und werde mit der Entscheidung des Chefredakteurs konfrontiert, er könne meinen Artikel nun nicht mehr in die Abendausgabe bringen. Ich bin mit dieser Entscheidung ganz und gar nicht einverstanden, baue mich unmittelbar vor ihm auf und beginne eine Diskussion in der Tradition klassischer Lamenti. Ich argumentiere sehr erregt und ein wenig eindimensional und achte stets darauf, ihn nicht zu Wort kommen zu lassen. Er verwarnt mich lautstark, ich reiße daraufhin die Augen auf und presse die Hände an den Kopf. Mein Gesicht verzerrt sich zu einer Grimasse, ich übe mich in italienischer Zeichensprache. Er wirft mich daraufhin aus seinem Büro, ich rotze zum Abschied auf seinen Schreibtisch und bringe seine Mutter mit einem alten Berufsstand in Verbindung. Im Türrahmen angekommen mache ich abrupt kehrt und gehe von Flüchen und Verwünschungen begleitet langsamen Schrittes in seine Richtung. Mein Zeigefinger deutet dabei Stiche an, zunächst in Richtung des Genitalbereichs, dann auf Augenhöhe. Mein Chef bleibt äußerlich ruhig und teilt mir mit gespielter Höflichkeit mit, er werde den Vorfall in meiner Personalakte vermerken. Ich applaudiere daraufhin und lache gekünstelt. Einem Kollege, der mich beruhigen will, schleudere ich mein achselnasses Ralf-Lauren-Hemd in die Visage und trete mit dem Fuß in einen Papierkorb, der der Wucht meines Stoßes nachgibt. Nachdem ich meinen Fuß aus der Tonne befreit habe, finde ich alles Scheiße und kommuniziere das auch. Da ich bislang nicht darüber nachgedacht habe, welche Konsequenzen mein Handeln haben könnte, beschließe ich, es auch weiter so zu halten: Ich zeige den Arbeitskollegen aus dem Kulturteil den angefeuchteten Mittelfinger und bezeichne sie als hirnlose Schwuchteln. Einige schütteln pikiert den Kopf, andere wechseln die Gesichtsfarbe und reden nun ebenfalls, ohne nachzudenken. Nach einem kurzen, reflexbedingten Wortgefecht mit einem der noch wenigen verbliebenen festen freien Redakteuren stapfe ich in mein Büro und schlage mit lautem Knall die Tür zu. Ich friere, schließlich ist mein Oberkörper entblößt. Ein junger Mann vom Samariter-Unfalldienst streckt den Kopf zur Tür herein und fragt, ob er mir helfen könne. Du kannst dir doch nicht mal selbst helfen, entgegne ich. Er bringt mir eine Wolldecke und legt sie mir fürsorglich über die Schultern. Im Nachbarbüro wird getuschelt, einige sind der Meinung, meine Reaktion sei angemessen gewesen, nachvollziehbar, schließlich hätten mich einige Kollegen in den letzten Tagen permanent provoziert, und so sei mein Verhalten ganz normal, nichts Besonderes, musste einfach alles mal raus. Andere halten mich für ein schlechtes Vorbild, ich würde die jungen Redakteure zur Revolte animieren. Sie fordern, dass ich mich beim Chefredakteur entschuldige. Aber wofür? Ich habe nichts getan. Außerdem: Man kann mir nix, ich habe Vertrag. Um mich zu beruhigen, schreibe ich Mails an Sportredakteure anderer Tageszeitungen und verrate Interna, vornehmlich Pikantes. Sollen sie mich doch rausschmeißen, bei der Konkurrenz kriege ich ohnehin mehr Kohle für die gleiche Leistung. Bei der abendlichen Redakteurskonferenz überprüfe ich Sitz und Form der Kleidungsstücke aller weiblichen Anwesenden, werde ich angesprochen, stelle ich mich schlafend oder übe mich in Standardfloskeln. Den Umgang mit meiner Person empfinde ich als respektlos, Kritik per se als gegenstandslos und überflüssig. Über die Abmahnung, die ich erhalte, kann ich nur lachen. Mach' ich auch. Für die Öffentlichkeit habe ich mir nach Einsetzen der Adrenalinebbe eine andere Strategie überlegt. Ich halte im Verlagshaus eine Pressekonferenz ab und gebe mich als reuiger Sünder. Ich sage Dinge wie „ich habe den Kopf verloren“, „es war aus der Situation heraus“ und „ich will mich jetzt wieder auf die Arbeit konzentrieren“. Das kommt an und wird verstanden. Ich verkünde, dass ich die Strafe vom Verlag akzeptieren werde, egal wie sie ausfällt. Nach dem Blitzlichtgewitter entlädt sich meine Anspannung, ich kämpfe mit den Tränen. Um mich abzulenken, hocke ich mich an meinen Schreibtisch und beginne eine Reportage über die Helden der Kreisklasse zu schreiben. Es muss ja weitergehen. So, jetzt wissen sie, wie es tagtäglich in einer Sportredaktion zugeht. Ganz wie auch im Mikrokosmos der Gesellschaft, dem Sport.

Vom Mikrokosmos zur Makroökonomie: Die leidet nun schon seit einigen Monaten unter den global operierenden Finanzjongleuren, doch der Sport scheint davon nicht viel mitzubekommen. Noch immer fließen Ablösesummen für Spieler, die in der Höhe dem Bruttosozialprodukt afrikanischer Staaten entsprechen.

Ist die Selbstverständlichkeit nicht erstaunlich, mit der wir akzeptieren, dass Geld die Welt reagiert – und nicht die Menschen mit ihren Zielen, Wünschen und Träumen? Hier zeigt sich der Sport (leider) sehr wohl als Abbild der Gesamtgesellschaft, in der die Wirkmacht des Kapitals und die Verlockungen des Geldes die Triebfeder menschlichen Handelns darstellen. Und gerade hier könnte der Sport Zeichen setzen, indem eben nicht alles dem Diktat der Ökonomie untergeordnet wird. Bereits 1961 sorgte Fußball-Nationalspieler und HSV-Idol Uwe Seeler für Erstaunen, als er ein millionenschweres Angebot eines italienischen Spitzenclubs nicht annahm und seinem Verein treu blieb (www.welt.de/sport/fussball/article3106975). Bis zu dieser Entscheidung war Seeler ein Star, danach ein Idol. Und er wird dafür auch heute noch nicht nur in der Hansestadt verehrt. Wenn ein anderer Verein deutlich mehr Salarium für einen Spieler oder Trainer als der Konkurrent bietet, dann geht man davon aus, dass sich der Wechsel auch vollzieht. Aktuelles Beispiel: Felix Magath. Natürlich kann er sich ein solches Angebot nicht entgehen lassen, sagen Sie? Dass ein Spieler oder Trainer sagen könnte, 3 Millionen Euro per annum reiche ihm, er müsse nicht 4 Millionen Euro verdienen und würde lieber in der Stadt bleiben, in der er Wurzeln geschlagen, die Frau ein soziales Umfeld und die Kinder einen Freundeskreis gefunden haben – das scheint gar nicht im Bereich des Möglichen zu liegen. Der Fußball hat eine Seele, schrieb einst der Literat Peter Handke, und meinte damit nicht das bloße Spielgerät. Die Menschen sind es, die den Sport mit Leben füllen und dem Fußball eine Seele verleihen. Sicher, ohne die Wirtschaft würde das Sportsystem, so wie wir es kennen, zusammenbrechen. Aber das (Fußball)Volk muss sich überlegen, ob es zulassen will, dass das Geld und seine Repräsentanz, der homo oeconomicus, den Fußballgeist mehr und mehr in die Flasche drängt, dass kühle Technokraten die Fußballwelt regieren und dass sich der Wert eines Vereins nur noch an (geschönten) Bilanzen bemisst? So sieht der seit wenigen Tagen arbeitslose Fußballmanager Dietmar Beiersdorfer auch bei „seinem“ HSV die Seele entschwinden. Er spricht auch nach seiner Entlassung von „seinem“ HSV. Dieses kleine Possessivpronomen hat sich nicht bei Didi und so vielen Tausend HSV'ern im Sprachgebrauch etabliert, weil der Verein mittlerweile Platz 34 der Topclubs in Europa einnimmt (http://www.eurotopfoot.com/clubde.php3). Dieses kleine Wort steht da, weil der Verein die Nummer 1 in ihren Herzen ist. Weil ein gelungener Spielzug, ein Tor, die enttäuschten Gesichter der Spieler und Mitstreiter nach einer Niederlage oder der erlösende Jubel nach dem Schlusspfiff die Seelen der Fans zum Klingen bringt. Denn der Mensch -jung und alt, arm und reich, schwarz und weiß- strebt, wie wir schon bei Aristoteles’ Nikomanischer Ethik nachlesen können, nach Glückseligkeit. Und dazu gehört im Leben wie im Fußball die richtige Mischung aus Seele, Geist, Herz und Geld.

A propos richtige Mischung: Die deutschen U 21-Kicker wurden die Tage Europameister in Schweden und Finnland. Ein Triumph mit Migrationshintergrund. Das wird ja in jedem zweiten Satz zum Ereignis formuliert ( www.zeit.de/online/2009/26/u21-oezil-khedira-beck-boateng ). Fast alle deutschen Spieler haben einen Migrationshintergrund. Aber: Wer hat das nicht? Wir müssen nur weit genug in der Zeit zurückgehen. Im Zuge des Bologna-Prozesses und eines zusammenwachsenden Europas müsste man außerdem korrekterweise von Europäern und Spielern mit außereuropäischem Migrationshintergrund sprechen. Man könnte aber auch sagen: Es sind Deutsche, die auf dem Platz standen, und zwar alle. Aber da der Gewinn einer Europameisterschaft gerne zu einem Titelmärchen verklärt wird, finden wir landauf landab mediale Kommentare, die Truppe von Horst Hrubesch sei ein Beispiel für gelungene Integration. Dieser Gedanke ist schön und tröstlich, stimmt aber nicht. Schließlich hätte das Aus in der Vorrunde doch wohl nicht bedeutet, dass die Integration gescheitert ist, oder? Und der Grund, warum Akteure, deren Eltern oder Großeltern einst nach Deutschland zogen, nun nicht mehr für das Land ihrer Ahnen spielen, muss nicht zwangsläufig mit einem überbordenden Gefühl für die deutsche Nation und der Identifikation mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu tun haben, sondern hängt in der Regel von vielen kleinen Dingen des Lebens ab: Die Kumpels spielen auch „hier“ und nicht „da“, der Trainer ist prima, der Verband kümmert sich, es gibt Kohle für den Erfolg (und deutlich mehr als woanders), es besteht keine kulturelle oder soziale Bindung an das Land ihrer Vorfahren. Die Spieler von Hotte Hrubesch sind nicht in Deutschland „angekommen“, denn sie waren ja nie weg. Im Gegenteil: Menschen mit Migrationshintergrund sind mittlerweile ein fester Bestandteil der deutschen und europäischen Kultur.

Eine „Sportart“ aus einem anderen Kulturkreis hat im Monat Juni den Sprung über den großen Teich gewagt: Das Ulimate Fighting erfreut sich seit Beginn der 1990er Jahre in den USA wachsender Beliebtheit und soll nun auch in Europa einem breiten Publikum vorgestellt werden. Nachdem seit einigen Jahren das Schwergewicht im Boxen nur noch leichte Kost anbietet und das Comeback von Schauspieler Mickey Rourke als Wrestler bei vielen Kampfsportinteressierten die Neugier an dem etwas anderen Kraftsport geweckt hat, habe ich mir den Kampfabend der Ultimate Fighting Championship (UFC) in Köln angesehen. Wenn Sie wissen wollen, was Ulimate Fighting ist und wie die Gegner und Befürworter dieser Veranstaltungen argumentieren, dann finden sie hier www.sport1.de/de/kampfsport/artikel_108423.html erste Anhaltspunkte. Ein Blogger nennt es „Hundekämpfe ohne Hunde“. Das trifft es ganz gut. Mehr gehört in eine Sportkolumne zu diesem Thema nicht hinein.

Der Hamburger Sportsoziologe Dr. Markus Friederici berichtet in einer monatlichen Kolumne über das Sportgeschehen.