Der Sportsoziologe Markus Friederici entlarvt in seiner exklusiven Kolumne für abendblatt.de Reporterphrasen und bricht eine Lanze für die Schiedsrichterzunft.

Hamburg. Gottes Sohn, zumindest sein Korpus, diente im Monat Mai der "taz" als Marketing-Gag; die Macher der Zeitung nagelten Ex-Bayerntrainer Jürgen Klinsmann mit der Aufforderung, doch mal auf die schöne Seite des Lebens zu schauen, ans (Latten-)Kreuz (www.taz.de/1/leben/medien/artikel/1/klinsmann-sieht-seine-wuerde-verletzt). Klinsi sah sich prompt in seiner Menschwürde beschädigt und wollte diese gerichtlich wiederhergestellt wissen – was bekanntermaßen so oder so nicht funktioniert. Nun meldete sich der selbsternannte Innovator des (deutschen) Fußballs nach seiner Kündigung erstmals bei Günther Jauchs "Stern-TV" zu Wort. Er hätte es geschafft, behauptet er, ja, die wo Meisterschale hätte er an die Isar geholt.

Für diesen dreisten Raub wäre er nur leider in den Knast gewandert, denn sportlich sahen sich viele Bayern-Spieler schon in langen Unterhosen bei den Don-Kosaken von Schachtjor auflaufen. Wenn Klinsmann die Meisterschaft errungen hätte, dann wäre zumindest ein Rekord in die Annalen eingegangen: Abwehrspieler Phillip Lahm resümierte, die Bayern hätten über den Saisonverlauf nur ein überzeugendes Spiel abgeliefert – beim 3:0-Erfolg in Bochum (www.sueddeutsche.de/sport/3/470549/text/6). Und das wäre doch wirklich einzigartig: Mit nur einem guten Spiel in der Saison Meister werden.

Aber was meinen Sie? Wären die Bayern mit Klinsmann Meister geworden? Und wo wäre Wolfsburg ohne Magath gelandet? Und wo Köln mit Podolski? Ohne das „Was wäre, wenn“ wäre die Sportwelt doch um vieles ärmer. Und schließlich können wir immer nur spekulieren, da – wissenschaftlich formuliert – die jeweilige Kontrollgruppe fehlt. Die Meisterschaft lässt sich nun mal nicht unter gleichen Bedingungen noch einmal mit Klinsmann zu Ende spielen, um dann Gewissheit darüber zu erlangen, ob etwas dran ist an Klinsmanns Stochastik.

Für den Wissenschaftler bedeutet zu spekulieren, auf der Grundlage so vieler Variablen wie möglich eine Prognose zu erstellen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit der Wirklichkeit entspricht. Und so verfährt eigentlich nicht nur der Wissenschaftler, sondern jeder, der vor einer Entscheidung steht und sich überlegt, was wohl passieren würde, wenn er anfinge, wieder Sport zu treiben, die Dauerkarte aufgäbe oder den Verein wechselte. Der Mensch imaginiert sich dann in eine fiktive Rolle, in ein fiktives Szenario, dessen Rahmen Wissen und Erfahrungen bilden. Und wägt dann unter Einbeziehung für ihn relevanter Größen ab, um schließlich die bestmögliche Entscheidung zu treffen.

So macht es auch Hoeness, bevor er einen Trainer feuert, so macht es Beachvolleyballerin Sara Goller vor einem Sprungaufschlag, so macht es Jenson Button, wenn er zum Überholmanöver ansetzt. Und wenn es schiefgeht – die Meisterschaft nicht gewonnen wird, der Ball an der Netzkante hängen bleibt oder der Dreher das Rennaus bedeutet –, kann man wunderbar spekulieren, warum man es hätte doch in jedem Fall anders machen müssen. Wissenschaftlich betrachtet werden dann lediglich die Variablen, die zur Entscheidungsfindung geführt haben, neu bzw. anders bewertet.

(Neu) bewerten müssen auch die Verantwortlichen vom Hamburger SV die abgelaufene Saison, nachdem der letzte Ball der Saison aus dem Netz geholt, der letzte Stürmer ins Abseits geschickt und die letzte vage Hoffnung von der Meisterschaft respektive der Champions League ausgeträumt war. „In Hamburg sagt manTschüss, das heißt Auf Wiedersehen …“ sang einst Volksschauspielerin Heidi Kabel, und viele sangen das Lied, als HSV-Coach Martin Jol gen Amsterdam abflog.

Trotz des „Erfolges“, der Qualifikation für die Euro-Liga dank Gladbacher Schützenhilfe, bleibt meine Kritik an Trainer Jol bestehen. Ich weine ihm keine Träne nach. Für mich fällt die Saisonbilanz deprimierend aus: Jol hat erfahrene, kampferprobte Führungsspieler ausgegrenzt (Bastian Reinhardt, Piotr Trochowski) und egomane Selbstdarsteller hofiert (Timothee Atouba, Albert Streit), Interna in der Presse diskutiert und somit einen Nationalspieler wie Trochowski demontiert. Und Jol hat im Training, wie nun durchsickerte, offensichtlich (zu) selten Laufwege und Automatismen trainiert und so deutlich erkennbare Abstimmungsprobleme forciert. Die Meisterschaft war in diesem Jahr durchaus drin, in jedem Fall die Champions League. Wer wird deutscher Meister? H, H, H, HSV.

Für die Champignons League hingegen qualifizierte sich NDR-Dampfplauderer Steffen Simon, der beim Spiel Bielefeld gegen Hannover den Niedersachsen in den ersten 30 Minuten „Luschen-Fußball am Rande der Wettbewerbsverzerrung“ attestierte. Fortan laberte er sich durch den Zusammenschnitt, reklamierte unter anderem einen fehlerhaften Schiripfiff, da keine Berührung vorgelegen habe. Für alle regelunkundigen Sportreporter (Simon ist leider kein Einzelfall) hier die ultimative Info: Versuch macht nicht nur klug: Der Versuch ist auch bereits strafbar (www.dfb.de/index.php?id=508078).

Andersherum kann und will man einen Stürmer nicht dafür bestrafen, dass er hochspringt, wenn der Abwehrspieler mit den Stollen voran angerauscht kommt. Zeugnis für Steffen: Luschen-Kommentare am Rande der Ahnungslosigkeit. Und wo wir schon einmal dabei sind: Die Herrenriege der Fußballsachverständigen soll mir mal erklären, wie man Fußball „mit angezogener Handbremse“ spielt (man frage mal einen Sportler, wie er eine solche taktische Vorgabe praktisch umsetzt: ein bisschen langsamer Laufen, beim Kopfball mit dem Leder nur zarten statt wuchtigen Kontakt suchen, beim Passspiel dem Gegner die Chance einräumen, den Ball zu erobern?), was clever daran ist, wenn bei knapper Führung Spieler Dramolette proben, indem sie Othellos Todesszene zu kopieren suchen, oder wie ein Tor zu einem psychologisch ungünstigen Zeitpunkt fallen kann (als gäbe es einen günstigen Zeitpunkt, einen Gegentreffer zu kassieren). Selbst wenn ein Gegentreffer unmittelbar vor dem Pausentee fällt, muss das nicht zwangsläufig mürbe machen, sondern kann Kräfte freisetzen, Botschaft: Jetzt gilt's, volle Konzentration.

Doch mein Lieblingsbegriff, der sich nicht nur, aber insbesondere in der Fußball-Bundesliga immer stärker werdender Beliebtheit erfreut, ist eine Metapher, die meist in zweideutigen Spielsituationen Anwendung findet und nahezu ausschließlich auf einen Pfiff bzw. eine Aktion des Schiedsrichters folgt. Der Begriff beinhaltet eine Aufforderung zum Messen mit zweierlei Maß und ist somit letztlich ein unverhüllter Protest gegen die Überparteilichkeit des Schiedsrichters. Ahnen Sie, um welchen Begriff es sich handelt? Richtig, ich meine den Begriff „Fingerspitzengefühl“. Da stellen wir uns, so wie Gymnasialprofessor Bömmel in der Feuerzangenbowle, erst mal janz dumm und fragen, wat is dat eijentlich, so ein Fingerspitzengefühl? Da dieser Begriff ausschließlich bei kniffligen Entscheidungen Verwendung findet, scheinen in den Fingerspitzen ja die feinsten und sensibelsten Gefühle zu stecken, die ein Mensch entwickeln kann. Der Schiri soll sich also bei schwierigen Entscheidungen auf seine Fingerspitzen verlassen, denn die werden's schon richten. Und tun sie es nicht – fehlt das Gefühl in den Endgliedern –, ja dann ist das nicht nur ärgerlich, sondern meistens auch spielentscheidend.

Nun sollte Fingerspitzengefühl doch gefragt sein, wenn es keine Regeln gibt und im Einzelfall Interessen abgewägt werden müssen, um ein gerechtes Urteil zu fällen. Beim Sport ist es genau andersherum: Hier gibt es in nahezu jeder Sportart ein komplexes Regelwerk, das den Ablauf des Spiels festlegt und Verstöße ahndet. Regeln tragen ganz maßgeblich dazu bei, dass es auf dem Platz, im Becken oder in der Halle gerecht zugehen kann. Schließlich soll die Leistungsbereitschaft und die Leistungsfähigkeit den Ausschlag über Sieg oder Niederlage geben – und eben nicht eine Entscheidung da mal so und beim nächsten Mal, in gleicher Situation, ganz anderes gefällt werden kann. Ein Foul im Strafraum an dem auf das Tor zustürmenden Spieler wird mit einem Strafstoß geahndet, hält der Torwart den Ball länger als 6 Sekunden in seinen Händen, gibt es einen Freistoß, trägt die Schwimmerin einen Anzug aus verbotenem Material, wird sie disqualifiziert, wird beim Aufschlag übergetreten, gibt es Punkt für die gegnerische Mannschaft.

Fingerspitzengefühl ist nirgendwo mehr fehl am Platze als hier, bedeutet es doch, dass ein Foul in dem einen Fall mit gelber Karte, in dem anderen Fall ohne Bestrafung geahndet wird. Natürlich leiden wir mit dem Spieler, der durch die gelbe Karte für das Finale im Uefa-Cup gesperrt ist, natürlich hat er das Foul nicht mit Absicht begangen, natürlich wollte er den Ball nicht mit der Hand spielen. Aber die Regeln sind eindeutig, und das ist auch gut so, denn die Regeln schaffen Verlässlichkeit, schaffen Glaubwürdigkeit und stärken das Prinzip der Demokratie im Sport: Dass es niemanden gibt, der bevorteilt wird, weil wir Mitleid haben oder wir ihn so gern mögen oder wir es als gerecht empfänden oder schwarze Koffer den Besitzer wechseln. Vor dem (Sport-)Gesetz sind alle gleich, auf dem Platz, im Becken und im Sand.

Und in diesem Zusammenhang würde ich gern eine Lanze für die Schiris brechen, die Wochenende für Wochenende für (meist) kleines Geld auf den Plätzen und in den Hallen stehen, um faire Wettkämpfe zu garantieren. Und denen von Trainern oftmals nicht nur mangelndes Fingerspitzengefühl attestiert wird, sondern die vielfach auch als Erklärung schwacher Leistungen herhalten müssen (neben dem Wetter, den Lichtverhältnissen, der Belastungssituation). Und selbst wenn es eine diskutable Entscheidung gegeben haben sollte, so waren die übrigen 50 Pfiffe in der Partie absolut korrekt. Ein Spieler, der 50 Pässe sauber zum Mann bringt und einen vergeigt, erhält die Note 1 in der Sonntagszeitung. Schiris werden bei einer Fehlentscheidung für die Niederlage verantwortlich gemacht und erhalten die Bewertung „Kreisklasse“. Ich würde mir da von den Trainern, aber auch einigen Spielern, zumindest bei der Würdigung der Leistungen der Schiedsrichter, ein wenig mehr Fingerspitzengefühl wünschen.

Ebenjenes fehlte offenkundig auch den Verantwortlichen von Eintracht Frankfurt. Doch zumindest konnten wir von ihnen lernen, was unter demokratischem Sozialismus zu verstehen ist – waren es doch die Eintracht-Fans, die entschieden, dass Trainer Friedhelm Funkel zu gehen habe. Das Kollektiv wollte es so, und der Vorstand musste sich beugen. Wie sonst ließe sich erklären, dass Eintracht-Boss Fischer in der "Sport-Bild" vom 20. Mai zu Protokoll gibt, den Trainer „infrage zu stellen sei falsch“, um Funkel wenige Stunden später nicht nur infrage, sondern freizustellen. In der Zeit zwischen Trainerrückendeckung und Trainerentlassung lag weder ein Punktspiel noch eine Mannschafts- oder Vorstandssitzung. Nur das Veto der Fans.

Eine andere Erklärung wäre, dass Fischer nicht das gesagt hat, was er dachte. Und wusste. Weil er das auch nicht sagen muss, da es die bindende Kraft des Wortes ohnehin nicht mehr zu geben scheint, im Fußball nicht und nicht in der Kaufmannszunft, die Ehrlichen die Dummen sind und die Lüge zu den Gesetzen des (Sport-)Marktes gehört. Regt sich ja auch niemand mehr darüber auf, im Gegenteil, es wird schon fast erwartet; äußert sich ein Funktionär nach einer 1:6-Heimniederlage, der Trainer stehe nicht zur Disposition, dann wird der Boulevard am Montag in großen Lettern von der Entlassung berichten.

Die nächste Entwicklungsstufe ergibt sich, wenn die Unwahrheit so weit verinnerlicht wird, dass sie faktische Realität gewinnt. Im Monat Mai liefert HSV-Präsident Hoffmann hier ein bemerkenswertes Beispiel. Im Interview antwortet er auf die Frage, ob sich der HSV bei der Suche nach dem Jol-Nachfolger erneut 177 Tage Zeit lassen will, dass es sich doch seinerzeit ausgezahlt habe, sorgfältig und mit Augenmaß den richtigen Trainer für den HSV zu suchen – und ihn ja dann auch schließlich in Martin Jol gefunden zu haben. Rückblende: Wie war das denn seinerzeit, vor gut einem Jahr? Der HSV handelte sich eine Absage nach der anderen ein, Klopp, Bilic und wie sie alle hießen lehnten allesamt dankend ab. Und schon ein Jahr später wird die Geschichte neu geschrieben und, mal ehrlich: Wem ist es aufgefallen, dass hier Hoffmanns Märchen auf dem Spielplan stand?

Märchenhaft erscheint auch das zeitgleiche Verschwinden von 20 belgischen Bodybuildern. Bei den nationalen Meisterschaften erschien kurz vor Beginn der Veranstaltung eine Delegation der nationalen Anti-Doping-Agentur und wollte die Akteure kontrollieren, die innerhalb weniger Minuten allesamt verschwunden waren. „So etwas habe ich in meiner ganzen Karriere noch nicht mitgemacht“, sagte ein anwesender Arzt (http://diepresse.com/home/sport/mehrsport/480606/index.do). Interessant auch, dass diese Nachricht fast keiner Tageszeitung eine Meldung wert war.

Für Schlagzeilen hingegen sorgte Schwergewichtsboxer Timo Hoffmann. Der Mann aus Eisleben, genannt „die Eiche“, hatte es wider Erwarten massiv gestört, dass sich ein Büffel an ihr rieb – und verlor dennoch gegen den südafrikanischen Altmeister Francois Botha (Kampfname „der Büffel“) nach Punkten. Ich mag Timo Hoffmann. Deshalb hoffe ich, dass er nun die Boxhandschuhe an den Nagel hängt. Und dem weißen Büffel wünsche ich, dass er dort landet, wo er hingehört: auf die Weide. Inständig hoffe ich, dass niemand auf die Idee kommt, einen Kampf Botha gegen Klitschko realisieren zu wollen. Natürlich würde ich ihn mir anschauen, aber sehen will ich ihn nicht. Die Klitschkos (gern mal gemeinsam, aber auch nacheinander) gegen Valuev, auch den weißen Tyson Chagaev gegen Gomez (alle Kämpfe unter www.boxrec.com). Aber bitte keine Schwergewichtskämpfe mehr, in der einer der beiden oder gar beide Akteure in ihren boxerischen Fähigkeiten so limitiert sind, dass die erste Runde bereits die letzte Runde ist – oder im Falle des Kampfes Botha gegen Hoffmann bei einigen Aktionen die Retina streikt. Zwölf Runden zweier schiebender, schubsender, stolpernder, entkräfteter Fleischberge, die vom Lucky Punch träumen. Nach dem Kampf habe ich mich bei einem unanständigen Gedanken ertappt: Ich war froh, dass sich beide nicht ernsthaft verletzt hatten. Zumindest in der Königsdisziplin des Boxsports stimmt die Plattitüde: Früher war alles besser!