Der Sportsoziologe Prof. Dr. Markus R. Friederici verfolgt exklusiv für Abendblatt online die Schach-Olympiade in Dresden.

Auf Armenien haben schon einige getippt, schließlich waren die Kaukasier bereits vor zwei Jahren in Turin ganz oben auf dem Siegertreppchen und haben durchweg Spieler im Team, die jeden Spitzenspieler schlagen können. Schaut man sich die Einzelergebnisse an, war es vielleicht an erster Stelle die mannschaftliche Geschlossenheit, die den Mannen um den Weltranglisten-Siebten Levon Aronian den Olympiasieg einbrachte. Lediglich am neunten Spieltag unterlagen Aronian und Co. den zweitplatzierten Israelis. Eine besonders beeindruckende Leistung zeigte Gabriel Sargissian an Brett drei: "He plays like God", beurteilte der russische Teamchef Alexander Motylev die Leistung des Armeniers, der auf eine Turnierleistung von 2869 Elo-Punkten kam (zum Vergleich: der Bulgare Veselin Topalev führt die aktuelle Weltrangliste mit 2791 Punkten an).

Favorit Russland landete auf einem enttäuschenden fünften Rang, und die deutschen Herren finden sich nach einem 2,5:1,5 Sieg gegen Litauen in der elften und letzten Spielrunde auf Platz 13 wieder. Unzufrieden mit der Platzierung sind sie indes nicht. Topspieler Arkadij Naiditsch: "Am Anfang lief es wirklich sehr gut für mich und uns. Es ist aber immer die gesamte Mannschaft, die gewinnt, nicht ich. Meiner Meinung nach haben David Baramidze und Daniel Fridman die herausragenden Ergebnisse bei uns eingefahren". Daniel Fridmann, bester Spieler des ersten deutschen Teams mit 7 aus 10 und einer Leistung von 2741 Elo-Punkten, sieht es ähnlich: "Es ist anfangs einfach gut gelaufen. Natürlich haben wir uns nach den fünf Siegen und den beiden Unentschieden gegen die Russen und Ukraine etwas mehr erhofft, als letztlich herausgesprungen ist.” Der Hamburger Jan Gustafsson hat trotz des starken Beginns seines Teams keinen Gedanken an das Treppchen verschwendet: "Nein, dazu hatte ich gar keine Zeit, man bereitet sich auf den Gegner vor, isst und schläft, an eine Medaille habe ich nicht gedacht." Dennoch: Nachdem die Herrenriege in der "Eröffnung" überzeugt hatte und im "Mittelspiel" gegen die höher eingestuften Russen und Ukrainer mitunter glänzte, hatte doch einige unverhohlen auf einen Podestplatz spekuliert. Doch das Spiel gegen die Polen brachte (leider) die Wende: Ein Sieg wurde leichtfertig verschenkt. So zumindest sah es Naiditsch: "Wir hätten dieses Match gewinnen müssen. Ich habe leider einen zweizügigen Gewinn ausgelassen." Auch Fridmann ist der Meinung, dass mit einem Sieg gegen die Polen die anschließende Partie gegen die Amerikaner hätte einen anderen Verlauf nehmen können: "Ich denke auch, dass der Kampf gegen Polen der Entscheidende war. Wenn wir da gewonnen hätten, hätten wir vielleicht auch einen etwas leichteren Gegner als die Amerikaner bekommen und dann wäre alles möglich gewesen". Leider zuviel hätte und wäre und zuwenig hat und ist. Die anderen beiden deutschen Teams landeten punktgleich auf dem 35. bzw. 42. Platz. Bemerkenswert: Georg Meier aus der zweiten Mannschaft hat mit 7 aus 9 und einer Leistung von 2779 das beste Ergebnis aller deutschen Akteure erzielt. Ein Zuschauer, den ich auf diese Leistung ansprach, bemerkte, er wäre schon mit 6 aus 49 mehr als zufrieden. Haha.

Bei den Damen konnten sich die Georgierinnen dank der besseren Zweitwertung gegen die Ukraine durchsetzen. Spitzenspielerin Maia Chiburdanidze steigerte ihre Elo-Zahl nach Siegen gegen stark eingestufte Gegnerinnen auf über 2700 ein Wert, den zur Zeit nur die Ungarin Judit Polgar erreicht, die mit ihrem Team, allerdings im Herrenklassement startend, auf Platz 8 landete. Platz drei belegte, wie auch bei den Herren, die Vertretung der USA. Deutschland 1 fand sich (trotz lediglich zweier Niederlagen) auf einem enttäuschenden 23. Rang wieder, und bei der abschließenden Pressekonferenz zeigten die Damen dann auch das, was so wenige bei Schachspielern vermuten: Emotionen.

Elisabeth Pähtz: "Man muss nur einen Blick in die Ergebnisliste werfen, wir haben alle fünf unter unseren Erwartungen gespielt. Wir haben nicht eine schlechte Stellung gedreht, nur gute verloren. Brett vier war ein Problem, wir haben anfangs praktisch nur zu dritt gespielt und später selbst angefangen etwas einzustellen." Ketino Kachiani-Gersinska sieht es ähnlich: "Wir hätten besser vier erfahrene Spielerinnen eingesetzt. Marta Michna musste elf Partien spielen. Mir macht es persönlich mehr Spaß, wenn man vorne mitspielen kann und ich denke, dass unseren beiden jüngeren Spielerinnen ganz einfach noch Erfahrung gefehlt hat." Klar, vorne mitspielen bringt mehr Spaß, nur lag das denn wirklich nur an der oder den anderen, dass nichts daraus wurde? Harmonie zumindest hört sich anders an. Youngster Melanie Oehme trotzte der Kritik: "Dass wir insgesamt nicht zufrieden sein können ist unbestritten, persönlich bin ich aber zufrieden. Ich habe die letzten vier Partien gewonnen und auch einige Elo-Punkte zugelegt.” Da wird wohl noch einiges aufzuarbeiten sein.

Was bleibt hängen von der Schach-Olympiade in Dresden? Eine ambivalent bewertete Eröffnungsveranstaltung (die Meinungen reichten von "dröge" über "berührend" bis "sensationell"), viele spannende Wettkampftage mit hochklassigen Partien, im Gegensatz zu anderen Sportgroßveranstaltungen keine Zuschauerausschreitungen (womit auch nicht unbedingt zu rechnen war) und jede Menge Zahlen. Wie jedes sportliche Event kann auch die Schach-Olympiade über eine Fülle von Zahlen charakterisiert werden: Die Höhe des Budgets, erwartete (20.000) und letztlich anwesende Zuschauer (13.083), Züge der Aktiven pro Wertungsrunde, Veränderungen in den Elo-Werten, kalkulierter und vollzogener Würstchenverzehr im Cateringbereich, Neueintritte in den Deutschen Schachbund und natürlich die magischen Zahlenwerte, die die Tage mit Spannung füllten: 1 oder 0? Oder 1/5:1/5?

Doch damit nicht genug: 25.000 Liter Mineralwasser hatte ein Sponsor zur Verfügung gestellt, 24 Tonnen Essen (inklusive Würstchen) wurden ausgegeben, 24.000 Liter Kaffe getrunken, 475 Kilo (Dresdner?) Stollen verköstigt. 54.430 Personen wurden durch den Transportservice befördert, 25920 Übernachtungen durch die teilnehmenden Mannschaften gebucht und täglich die Daten von 520 Brettern im Internet übertragen. Gemäß Statistik schauten 52 Millionen unterschiedliche Besucher digital vorbei.

Bei einem Blick hinter diese offiziellen Zahlen finden sich aber auch andere, die Aufmerksamkeit verdienen: Der Taiwanese Men-Wei Ho war mit sieben Jahren der jüngste Spieler der Schacholympiade, William Hook mit 83 Jahren der älteste. Hook, der für die britischen Jungferninseln startet, erlebte seine 17.Olympiade, Ho war zum ersten Mal dabei. Wie er das in seinem Alter geschafft hat? Er hat die Männer, die mit ihm um den Platz konkurrierten, geschlagen. So einfach funktioniert das System Leistungssport: Sieg oder Niederlage (und gelegentlich auch mal Remis) danach richtet sich letztlich alles aus. So wie es im System Wirtschaft um zahlen und nicht-zahlen, im System Wissenschaft um wahr und nicht-wahr und im System Religion um glauben und nicht-glauben geht (so zumindest beschreibt es der Soziologe Niklas Luhmann in seiner Systemtheorie). Und da eben nur die sportliche Leistung über Sieg oder Niederlage entscheidet, half auch alles Daumendrücken nicht der kleine Ho blieb sieg- und remislos. Dennoch hatte er der Veranstaltung etwas Positives abzugewinnen: "Ich mag den Schnee”, sagte er. Think pink.

Das Schlusswort der Veranstaltung blieb dem kalmückischen FIDE-Präsidenten Kirsan Iljumschinow vorbehalten. Die Organisation sei hervorragend gewesen, und eine Botschaft aus Dresden um die Welt gegangen: "Schach ist eine Religion des Friedens, der Sympathie und der Strategie". Schach als Religion, Aktive, die gottgleich spielen. Halleluja. Geht es nach den Funktionsträgern der FIDE, soll Schach zukünftig auch bei den Olympischen Spielen vertreten sein. Hier zumindest passt die Religion: Der Glaube kann Berge versetzen, und: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Der Hamburger Dr. Markus R. Friederici vertritt die Professur für Sportsoziologie und Sportökonomie an der TU Chemnitz.