Im Monat August halte ich es mal mit dem Motto der Sesamstraße: „Der, die, das – wieso, weshalb, warum? – wer nicht fragt, bleibt dumm.“

Das „der, die, das“ des Monats waren der Start der Fußball-Bundesliga, die Leichtathletik-WM in Berlin und das Auf und Ab des Se-rienmeisters Bayern München. Über das bunte Treiben aus der Landeshauptstadt habe ich bereits ausführlich berichtet (s. Abendblatt-Archiv), nun also zu den Fragen, wieso der Fuß-ball in Deutschland boomt, weshalb die Wirtschaft vom Fußball lernen kann und warum die Bayern die beste und schlechteste Mannschaft im bezahlten Fußball zu sein scheinen.

Veränderungen in der Mitgliederstruktur von Sportvereinen zu erklären, ist nicht leicht. In den 1970er Jahren prognostizierten Experten einen Boom in der Sportvereinslandschaft. Die zunehmende Fliessbandarbeit und die monotonen Arbeitsrhythmen würden dazu führen, dass sich die Menschen in ihrer Freizeit wieder stärker der Gemeinschaft, dem sozialen Miteinan-der zuwenden würden; und der Sportverein habe da schließlich eine ganze Menge zu bieten. Und in der Tat kam es zu massiven Veränderungen, allerdings ganz anders, als erwartet: Fit-nessstudios sprossen wie Pilze aus dem Boden und begannen den Sportvereinen einen Teil ihres Klientels abspenstig zu machen. Tagsüber saßen die Menschen an ihren Schreibtischen und vereinsamten, abends gingen sie ins Fitnessstudio und saßen erneut alleine an Geräten und formten ihren Körper. Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass im Kontext der Sportvereins-entwicklung das Offensichtliche nicht immer das Zutreffende ist, oder anders formuliert: Prognosen sind in diesem Feld äußerst schwierig. Dennoch gibt es eine Reihe von Untersu-chungen, die zumindest erklären können, warum sich Entwicklungen in die eine oder andere Richtung vollzogen haben. So folgt jedem sportlichen Großereignis, dass medial aufbereitet wird, in der Regel eine größere Nachfrage in den Sparten der Vereine. Diese erhöhte Nach-frage ist in der Regel zeitlich beschränkt, und nach einigen Wochen erreicht die Nachfrage wieder das ursprüngliche Niveau. Dieser Umstand wird noch dadurch verstärkt, dass die Sportvereine im Gegensatz zu kommerziellen Anbietern oftmals zu schwerfällig sind, um auf aktuelle Strömungen und Ereignisse („Events“) mit den entsprechenden Angeboten reagieren zu können.

Die erhöhte Nachfrage wird zudem durch sportlichen Erfolg verstärkt. So mag die diesjährige Tour de France eine Reihe von Jugendlichen für den Radsport begeistert haben; gäbe es aber einen wie einst Jan Ullrich, der um den Toursieg mitgefahren wäre, dann wäre die Nachfrage in Deutschland um ein vielfaches höher. Und so lässt sich das wachsende Zuschauerinteresse und der Zulauf in den Supporter Clubs nicht nur durch die mediale Darstellung der Sportart Fußball erklären, sondern auch und gerade durch sportliche Erfolge. Und Deutschland ist im Fußball wieder konkurrenzfähig, vorbei sind die Zeiten des Rumpelfußballs und des gepfleg-ten Querpasses vor der eigenen Abwehr. Deutschland ist Vize-Europameister und hält erst-mals alle europäischen Titel im Jugendbereich, ist amtierender U 21, U 19 und U 17 Europa-meister. Das hat noch keine Nation zuvor geschafft. Wir sind Fußball! Und da ist es nur allzu verständlich, dass viele auf den Erfolgszug aufspringen und auch zu den Gewinnern zählen wollen – getreu dem Motto: Im Fußball wird uns niemand belächeln, und wenn doch, werden sie es spätestens im Elfmeterschießen bereuen.

Der immense Anstieg von Fußballfans, die sich in Vereinen und Supporter Clubs organisie-ren, hat in erster Linie mit aktuellen Phänomenen zu tun; schließlich haben diese Gruppen erst seit geraumer Zeit einen derartigen Zulauf (www.abendblatt.de/sport/fussball/article1128899/Das-Lagerfeuer-der-Moderne.html).

Hier sind in erster Linie zwei Phänomene zu nennen: die Finanzkrise und die Zunahme einer Bevölkerungsgruppe, die als „Prekariat“ bezeichnet wird. So waren die letzten Monate von einer Krisenstimmung geprägt, ausgelöst durch die Turbulenzen in der Weltwirtschaft. Nun ist der Mensch ein Wesen, das nach Ausgleich strebt. Wird es kritisiert, sucht es nach Lob. Hat es Stress, sucht es nach Entspannung. Hat es Angst, sucht es nach Sicherheit. Die Welt-wirtschaftskrise macht vielen Menschen Angst, und so suchen sie nach Sicherheit. Die Si-cherheit sozialer Gemeinschaften, in denen sie sich austauschen und ihre Ängste relativieren können. Der Sportverein und die Supporter Clubs bieten sich hier als Plattform an. Hier gibt es Menschen mit gleichen Interessen und Ansichten, zudem gibt es in diesen Gruppen einfa-che Regeln, ein klar konturiertes Weltbild und eindeutige Zuordnungen, was „gut“ und was „schlecht“ ist. In Fangruppen wird die Komplexität der sozialen Wirklichkeit auf ein verar-beitbares Maß reduziert. Diese Übersichtlichkeit und Eindeutigkeit ist es, was vielen Men-schen im Alltag fehlt.

Zum Prekariat zählen Menschen, die sich -wie es der Name sagt- in prekären (finanziellen) Lebensumständen befinden, denen Sicherheit und Zukunftsperspektiven fehlen. Und oft auch der Glaube, dass es wieder aufwärts geht. Die Zahl dieser Menschen wächst in Deutschland stetig an. Sie stellen sozusagen die Spitze des unteren Teils der Schere zwischen arm und reich da, die auch in den Industrienationen sukzessive weiter auseinandergeht. Die Einkünfte der Menschen, die sich in einer solchen Lebenssituation befinden, reichen kaum zum Leben. Sie fühlen sich ausgegrenzt, was häufig mit einem sinkenden Selbstbewusstsein und Selbst-wertgefühl einhergeht. Soziale Gruppen wie Supporter Clubs vermitteln dem Einzelnen das Gefühl, wichtig zu sein und gebraucht zu werden. Sie sind es schließlich, die als 12. Mann der Mannschaft zum Sieg verhelfen. Bestätigung erfahren sie dabei nicht nur von den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft, sondern sogar von denjenigen, die sie sonst nie beachten wür-den: Den Spielern, die in die Fankurve gehen, ihren Supporters applaudieren und sich im In-terview für die Unterstützung bedanken. Hier gehören sie dazu; sie sind Teil des Erfolges, können positive Emotionen erleben und eine kurze Zeit ihre Zukunftsängste verdrängen.

Hier können im übrigen auch Wirtschaftsunternehmen von Supporter Clubs und Sportverei-nen lernen. Bislang beschäftigt sich die Wissenschaft ja in der Regel ausschließlich mit der Frage, was Sportvereine von Unternehmen lernen können. Der wesentliche Unterschied zwi-schen Unternehmen und Sportvereinen liegt darin, dass in Sportvereinen individuelle Ziele und organisationale Ziele weitestgehend deckungsgleich sind: „Wir gewinnen und wir verlie-ren gemeinsam.“ In Unternehmen ist das nicht so. Um Arbeitsmotivation zu erzeugen, werden individuelle Ziele über selektive Anreize mit den organisationalen Ziel synchronisiert. Selek-tive Anreize sind Geld, Macht oder Verantwortung. Doch in der Regel fehlen die positiven Emotionen. Sie sind es letztlich, die Energien und Potentiale freisetzen. Auch und gerade hier können Unternehmen von Vereinen lernen, indem sie die Mechanismen kopieren, die zur Ent-stehung positiver Emotionen und zur Vermeidung negativer Emotionen führen – Identifikati-on über Erlebnisse und Beteiligung schaffen, in Gesprächen negative Emotionen kanalisieren, größere Handlungs- und Entscheidungsspielräume bei geringeren formalen Strukturen schaf-fen, über Ziele verständigen und mit Argumenten überzeugen, um Mehrheiten zu finden und Koalitionen zu bilden. Im Verhältnis zwischen Unternehmen und Kunden ist es ähnlich: Der wesentliche Unterschied zwischen einem Fan und einem Kunden liegt in der Markenbindung: Beim Fan ist sie eng, beim Kunden in der Regel nicht – und muss für teures Geld durch Wer-bung und Marketing erzeugt werden. Ist der Kunde dann mit der Marke nicht (mehr) zufrie-den, wendet er sich einer anderen Marke zu. Der Fan macht das nicht. Er kehrt „seinem“ Ver-ein auch bei Enttäuschungen nicht den Rücken zu, geht mit ihm durch „dick und dünn“. Was für ein verlockender Gedanke für einen Dienstleistungsunternehmen. Und auch wenn einen Kundenbindung nie so intensiv sein wird wie die Bindung eines Fans an „seinen“ Verein, so macht es dennoch für den Unternehmer Sinn, mal auf das zu schauen, was diese starke Bin-dung eigentlich ausmacht.

Wie sonst als mit eben jenen, starken emotionalen Bindungen ließe sich das anhaltende Zu-schauerinteresse erklären, obwohl sich Fußball-Schiedsrichter von der Wett-Mafia bezahlen lassen, Handball-Spiele in großem Stil verschoben werden und Trainer wie Sportler beim Do-ping die Augen schließen, um die finanzielle Unterstützung von Sportartikelherstellern und Sponsoren nicht zu gefährden. Hinzu kommt: Die Öffentlichkeit vergisst schnell. Oder erin-nern Sie sich noch an die Vorgänge um die Vergabe der Handball-WM nach Deutschland (www.abendblatt.de/sport/article565693/Peinliche-Posse-um-Handball-Praesidenten.html) und den „Aktivitäten“ des Handball-Präsidenten, der im übrigen auf der letzten Jahreshaupt-versammlung mit überwältigender Mehrheit in seinem Amt bestätigt worden ist? Dass das Gedächtnis mitunter lediglich von Spiel zu Spiel reicht, machen sich die Journalisten zu nut-ze. Die kollektiven Amnesien sichern den Blattmachern und Bildgebern das Überleben. Im Monat August konnte man dies Phänomen eindrucksvoll an der Berichterstattung über den Fußball-Rekordmeister Bayern München nachzeichnen. Die Bajuwaren hatten vor Saisonbe-ginn mal wieder am Tiefsten aller deutschen Fußball-Clubs in die Kasse gegriffen, um ihren Kader zu verstärken. Der Sturm wurde u.a. mit dem 30-Mio-Mann Mario Gomez ergänzt. In medialen Stammtischen und Expertentalks, Kommentaren zum Bundesliga-Start und Artikeln in U- und E-Blättern stand der Meister der Saison 2009/10 fest: Die Bayern werden's. Wer sonst? Und dann geschah das, was schon so oft passiert ist – und doch immer wieder Ungläu-bigkeit hervorruft: Der Favorit stolpert und wankt, spielt Remis, noch mal Remis, und verliert schließlich beim Underdog. Und so, wie es viele Väter des Erfolges gibt, so wissen auch viele (scheinbar jeder!), was ursächlich für die Misere verantwortlich ist. Alles und jedes wird in Frage gestellt: Die Qualität der Spieler, die Saisonvorbereitung, die Zusammensetzung der Mannschaft (zu viele Häuptlinge, zu wenig Indianer – oder umgekehrt), das Spielsystem (bei den Bayern die „hängende Spitze“ und das „Übergewicht im Mittelfeld“) und natürlich der Übungsleiter. Der sei „ja noch schlimmer, als der Klinsmann war“, wettert Schalkes Ex-Manager Rudi Assauer. Das Fehlen von van Bommel, der fleißigen Frau Antje des deutschen Fußballs, wird als zentrales Manko ausgemacht, und das sei doch bezeichnend für die Verfas-sung des Abonnementmeisters – wenn ein limitierter Fußballer wie van Bommel (O-Ton des limitierten Ex-Fußballers Thomas Helmer) nun der zentrale Akteur im Spiel der Münchener sei. Im Prinzip ist Bayern schon abgestiegen, und das nach dem dritten Spieltag. Als Sahne-häubchen denkt Coach van Gaal laut über seinen Abschied nach (www.welt.de/sport/fussball/article4421909/Trainer-van-Gaal-spricht-jetzt-schon-von-Abschied.html). Doch nur wenige Stunden später vermelden die News-Ticker, Kassenwart Uli Hoeness öffnet die Vereinsschatulle, und unmittelbar darauf gehen die Bayern erfolgreich auf Robbenjagd: Der niederländische Nationalspieler Arjen Robben wechselt aus Madrid zu den Bayern. Und schon am folgenden Wochenende schießt van Gaals Landsmann gegen den amtierenden Meister Wolfsburg zwei Tore beim 3:0-Erfolg. Die Pressefähnchen schwingen prompt um: Die Bayern sind dran, Udo Lattek schreibt in seiner Kolumne, ihm gehe das Herz auf (wenn das mal nicht bald bitterer Ernst wird), und all die Experten, die eine Woche zuvor über Bayerns schlechtesten Saisonstart seit 43 Jahren berichteten, schwärmen nun vom neuen Traum-Duo Rib-Rob (Ribery-Robben), dem Zauberfußball, dem Meister-Gen, dem Power-Fußball, dem virtuosen links-und-rechts-und-cha-cha-cha. Und wissen Sie, was passiert, wenn am nächsten Wochenende die von den Realos transferierte, hängende Spitze nicht sticht, Jörg Butt so spielt, wie wir ihn aus seiner Zeit in Leverkusen, Lissabon und der Vorsaison kennen und Daniel van Buyten erneut von akuter Orientierungslosigkeit gepeinigt wird? Dann war es ein Strohfeuer, nur ein letztes Aufbäumen, der Fall nun um so tiefer, erschütternd das alles, was aus den Bayern geworden ist. Aus Mittelfeld-Motoren werden Kolbenfresser. Und dann die verfehlte Einkaufspolitik, und überhaupt der Nerlinger, es gibt nur ein'n Ulli Hoeness. Doch sollte das darauffolgende Spiel wieder siegreich gestaltet werden können, sähe Bayern-Vize Rummenigge „seine“ Mannschaft sicherlich wieder auf dem richtigen Weg, Lichtgestalt Franz hätt's ohnehin immer g'wusst, dass do noch wos geht, denn nun rollen sie das Feld auf, und wer, ja nur wer soll sie stoppen, wird dann auch DSF-Experte Jörg Wontorra in die bier-selige Sonntag-Morgen-Runde im DSF fragen. Und von der Bel Étage geht's wieder in's un-gewisse Bodenlose, dann mit genialem Hurra-Fußball -geh ma' burm- und Karacho in die Champions League, und schließlich wartet, -nach dem einen oder anderen uninspirierten Grottenkick und „jetzt-muss-was-passieren“-Parolen- letztlich doch der Meistertitel. Is doch al's scho do'wges'n.

Der Hamburger Sportsoziologe Dr. Markus Friederici berichtet in einer monatlichen Kolum-ne über das Sportgeschehen.