Sportsoziologe Dr. Markus Friederici blickt auf abendblatt.de exklusiv auf die vergangenen Wochen gewohnt kritisch, bissig und pointiert zurück.

Haben Sie schon einmal geträumt, sie könnten fliegen? Ich weiß, dass es viele Menschen träumen. Sie springen von einer Klippe und denken: “Oh mein Gott, ich stürze in den Tod.“ Doch dann breiten sie die Arme aus und stellen fest, dass sie fliegen können. Ich habe nie geträumt, fliegen zu können. Ich konnte schnell laufen. So schnell, dass die Häuser links und rechts an mir vorbeiflogen als raste ich mit einem Ferrari über die Autobahn.

Ähnlich muss sich der Jamaikaner Usain Bolt fühlen, wenn er zum Sprint ansetzt. Am Sonntag Abend um 21.40 Uhr benötigte er auf der blauen Kunststoffbahn im Berliner Olympiastadion 9,58 Sekunden für die Distanz von 100 Metern und sicherte sich damit nicht nur den Weltmeistertitel, sondern auch einen Platz in der Hall of Fame der Leichtathletik.

Das 100 Meter Finale war sicherlich eins der Highlights der WM stilisiert worden, schließlich trafen zwei Protagonisten aufeinander, die verschiedener nicht sein könnten: Der introvertierte, leise sprechende und diszipliniert lebende Tyson Gay und sein Widerpart, der extrovertierte Showman und Partyheld Usain Bolt. Die beiden waren zudem die Zeitschnellsten dieses Jahres, und als ob das nicht bereits Brisanz genug wäre, stammt Gay aus den USA und Bolt aus Jamaika – zwei Nationen, die sich seit Jahren auf der Kurzbahnstrecke harte Fights liefern.

Die 100 Meter Strecke ist auch deshalb so populär, weil nahezu alle Teilnehmer eine Vita mitbringen, die Stoff für Hollywood liefern könnte. Der Vater des einen arbeitet als Schlachter auf Jamaika und will trotz des Geldes seines Sohnes nicht seinen geliebten Job, sondern weiterhin Hühnchen an den Nagel hängen, ein anderer hat eine zweijährige Dopingsperre hinter sich und gilt nach seiner schonungslosen Beichte als Geächteter in der Szene, der nächste konnte sich zu Beginn seiner Karriere keine Laufschuhe leisten und rannte die ersten nationalen Rekorde barfuß. Und so schillernd die Geschichten und Lebensläufe der Akteure, so faszinierend sind auch ihre Rituale. Manche könnte man schon als Ticks bezeichnen, die im Grenzbereich zum Tourette-Syndrom liegen: Dem Bekreuzigen muss der Kuss und der gehobene Zeigefinger folgen, der letzte Schluck aus der Wasserflasche muss nach der ersten Aufforderung des Starters erfolgen, die Startposition einzunehmen, die Arme müssen gestreckt in den Himmel gereckt werden und dabei eine Danksagung an den Allerheiligsten erfolgen. Erst wenn dieses Pensum abgespult ist, besteht die Chance, die Bestleistung abzurufen. Eine self-fullfilling prophecy: Wird die Bestzeit dann tatsächlich erreicht, bringen es die Athleten mit dem Ritual in Verbindung. Klappt es nicht, sind Faktoren außerhalb des Einflussbereiches verantwortlich. Unabhängig davon, ob die Bestleitung erzielt wurde, darf man es sich -und dieses Ritual pflegen nahezu alle Top-Sprinter- nach einem Rennen auf gar keinen Fall anmerken lassen, dass der Lauf Kraft gekostet hat. Läuft man 100 Meter volle Kanne, ergibt sich eine Sauerstoffschuld. Wenn man in's Ziel kommt, muss man hyperventilieren, bis die Bringschuld erbracht ist. Das ist auch bei Profis nicht anders. Schaut man sich aber die Sprinter nach der Zielankunft an, sieht man, wie bemüht sie sind, ihre Anstrengung zu verbergen. Da blähen sich die Nasenflügel auf, nur um den Mund geschlossen halten zu können – Hauptsache der Kontrahent sieht, dass ich hier alle im Dauerlauf schlagen kann und für die nächste Runde noch einiges in Reserve habe. Ich bin stark, sehr stark. Und du: nicht. Das hat etwas Archaisches, und vielleicht ist die Disziplin auch deshalb so beliebt. Und wenn es einer seinen Kontrahenten so richtig zeigen will, dann trudelt er schon nach 90 Metern aus und wirft einen Blick nach rechts und links, mit dem fragenden Blick im Gesicht: „Wo seit ihr? Warum kommt ihr denn nicht?“ Die Deutschen Sprinter fallen hier aus dem Rahmen, denn sie atmen nach dem Zieldurchlauf durch den Mund (und zwar heftig). Zwar trudeln sie gelegentlich auch nach 90 Metern aus, was aber leider keine beabsichtigte Aktion darstellt, sondern ihrem Leistungsvermögen entspricht. Alle deutschen Starter schieden im Vor- bzw. Zwischenlauf aus. Im Finale trafen sich dann die üblichen Verdächtigen, aber es gab nur einen, der die Massen elektrisierte: Besagter Usain Bolt. (www.youtube.com/watch?v=p3jt2-9-3ds). Dabei hatte Jean-François Toussaint vom Biomedizinischen und Epidemiologischen Institut in Paris doch für den 100 Meter-Lauf eine absolute Bestmarke von 9,726 Sekunden errechnet. Wissenschaftlich wasserdicht. Am 31. Mai 2008 lief Bolt 9,72, am 16. August 2008 9,69 und nun 9,58 Sekunden. Dies lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Usain Bolt ist kein Mensch.

Und schon sind wir bei einem Thema, das ebenfalls das erste Wochenende der Leichtathletik-Weltmeisterschaft beherrschte: Wer hat gedopt, gespritzt, geschluckt, gecremt? Gibt’s wieder etwas Neues auf dem Markt, was nicht entdeckt werden kann? Haben die Panscher und Hehler Matschiner, Herrera und Co. einen weiteren Namen ihrer Kundschaft preisgegeben? Die Pessimisten sagen, früher hätte es noch Helden im Sport gegeben. Vor dem Doping. Das stimmt natürlich nicht, denn Doping gab es auch zu der Zeit der vermeintlichen Helden. Nur wusste man da noch nicht, warum einige Damen tiefer singen als die Herren, sich ihre Zahnreihen verformen und sich eine zweite Pubertätswelle über Aknepusteln den Weg aus ihrem Körper bahnt.

Diskuswerfer Robert Harting hatte vor dem WM laut darüber nachgedacht, Doping zu legalisieren, war aber von den Funktionären augenblicklich abgewatscht worden – und relativierte seine Aussagen. Dennoch ist das Thema (auch) in dieser Sportart allgegenwärtig. Als der Russe Bortschin im 20 km Gehen siegt, titelt sport1: „Ex-Doper Bortschin gewinnt erstes Berliner Gold“ (www.sport1.de/de/leichtathletik/leichtathletik_wm/artikel_140402.html). Die Sperre liegt nunmehr vier Jahre zurück, und so fragt sich der Leser schon, warum die Redaktion gerade diesen Zusatz gewählt hat. Auch im ZDF wabert (erneut) der Dopingverdacht durch nahezu sämtliche Kommentare. Sportreporter und Ex-Leichtathlet Poschmann kommentiert das 100 Meter-Finale der Männer, und als die Läufer nach dem Signal „on your marks“ ihre Positionen einnehmen und es mucksmäuschenstill im Berliner Rund wird, verkündet Poschmann mit Grabesstimme, nun brodele das Adrenalin in den Adern. „Und wer weiß, was sonst noch alles.“ Noch während ich dies schreibe, frage ich mich, was Sportreporter reitet, solche Momente kaputt zu machen. Ja, vielleicht hat im Starterfeld einer gedopt. Vielleicht auch mehrere. Vielleicht werden wir es erfahren, vielleicht auch nicht. Aber im Moment eines der größten Leichtathletik-Ereignisse des Jahres ist mir das ziemlich egal. Ich will das Rennen sehen. Und wünschte mir bei der nächsten Veranstaltung einen Kommentator, der diese Leidenschaft teilt.

Betrüblich ist auch der Zuspruch, den die Leichtathletik am ersten Wochenende erfährt: Bislang ist lediglich ein Wettkampftag ausverkauft (nächster Samstag), und selbst zur Zeit des Finales über 100 Meter ist das Stadion, in das ungefähr 56.000 Menschen passen, nicht ganz gefüllt. Das ist bedauerlich, bei einer Weltmeisterschaft in einer Millionenmetropole mit entsprechender Medienpräsenz. Schauen wir über den Tellerrand der deutschen Printmedien hinaus, finden wir zudem eine äußerst spärliche Berichterstattung. In der New York Times lesen wir unter der Überschrift “Bolt Shatters 100-Meter World Record” lediglich einen umfangreichen Artikel über das 100-Meter Finale (www.nytimes.com/2009/08/17/sports/global/17track.html?ref=sports). Ein Wort finden wir in dem Artikel vergeblich: Berlin. Auch die englische Times titelt mit „Usain Bolt runs 9.58secs to smash world record in 100 metres” und reflektiert, ob der Jamaikaner nun zu den Top-Stars der Weltsportszene gehöre. Über Berlin und die Veranstaltung kein Wort. (www.timesonline.co.uk/tol/sport).

Was kann, was muss anders werden, um die Sportart populärer zu machen? Kostenloser Eintritt wie beim Beach-Volleyball? Helfen können in jedem Fall Top-Leistungen der (deutschen) Athleten. Wer würde den Namen Baumann schon kennen, hätte er 1992 nicht im olympischen 5000 Meter Finale das Feld auf den letzten 100 Metern von hinten aufgerollt und all die hochgehandelten Schwarzafrikaner hinter sich gelassen?

So gesehen haben die deutschen Leichtathleten die Chance bislang nur bedingt genutzt, die Sportart nach vorne zu bringen; bei dem Know-how des trainierenden und betreuenden Personals ist es schon erstaunlich, dass so wenige deutsche Athleten beim Saisonhöhepunkt an Ihre Bestleistungen herankommen. Insbesondere die deutschen Sprinter haben enttäuscht, und auch die beiden Kugelstoßerinnen, die neben Silbermedaillengewinnerin Nadine Kleinert die deutschen Farben vertraten, warfen sich bei Ihren Versuchen die Kugel auf die Füße.

Emotionaler Höhepunkt des Wochenendes waren die fast zeitgleich errungenen Silbermedaillen von Siebenkämpferin Jennifer Oeser und Kugelstoßerin Nadine Kleinert. Als sie bei ihrer Ehrenrunde aufeinandertrafen und sich umarmten, war sie das erste Mal da: die Gänsehaut. Oeser hatte wenige Minuten vorher eine Medaille bereits so gut wie sicher, nur stürzen durfte sie beim abschließenden 800 Meterlauf nicht. Und dann trat ihr ausgerechnet Mannschaftskollegin Julia Mächtig mächtig in die Hacken, so dass Oeser zu Fall kam. Die gebürtige Brunsbüttlerin rappelte sich hoch und nahm die Verfolgung der Spitzengruppe auf, überholte Kontrahentin um Kontrahentin und krönte ihre Aufholjagd schließlich mit der Silbermedaille. Einige wunderten sich, dass die frischgebackene Vize-Weltmeisterin nicht nach dem Überqueren des Zielstrichs jubelnd die Arme in die Höhe riss. Ich weiß, warum sie es nicht tat. Und sie können es auch erfahren, wenn sie wollen. Gehen sie mal in das nächstgelegene Leichtathletikstadion und laufen die Hälfte der Strecke, die Oeser zu absolvieren hatte, also eine Stadionrunde, so schnell sie können. Dann werden sie wissen, warum der Jubel zeitverzögert einsetzte.

Jubeln indes wollen wir auch noch in den nächsten Tagen, schließlich sind 47 Goldmedaillen zu vergeben. Und die eine oder andere davon sollte in Deutschland bleiben.

Der Hamburger Sportsoziologe Dr. Markus Friederici berichtet in einer monatlichen Kolumne über das Sportgeschehen.