Safien ist ein Idyll in den Schweizer Hochalpen. Doch der Ort hat nur eine Zukunft, wenn Urlauber kommen.

Chur. Auf der einzigen Straße in Safien ist es normalerweise so ruhig, dass man morgens einen Liegestuhl darauf stellen und stundenlang ungestört darin sitzen kann. Von dort lässt es sich zu den fast 3000 Meter hohen Gipfeln hinaufblicken, die das stille Dorf im Schweizer Kanton Graubünden umstellen: Bruschghorn, Bärenhorn, Piz Beverin. Mit Wäldern, die sich an die beinahe senkrechten Flanken lehnen, und dazwischen Schneisen wie riesige Adern, durch die nach sieben Monaten Winter das Schmelzwasser herunterschießt.

Auf der anderen Seite des engen Safientals sieht man die Wohnhäuser aus dunklem Holz, welche die Sonne in 300 Jahren fast schwarz gebrannt hat. Eingegraben in steil ansteigende Wiesen - im Frühling und Sommer voller Krokusse und Schlüsselblumen, im Winter, wenn sich Schnee darauf gelegt hat, glitzernd wie Diamant. Hin und wieder aber muss man sich doch aus dem Liegestuhl auf der Straße erheben und ihn zur Seite stellen. Wenn das Postauto kommt - oder eine Gruppe Lamas.

Vor zwei Jahren haben Angelika Bandli und ihr Mann im Zürcher Oberland mehr als 10 000 Franken bezahlt und sind mit sieben jungen Lamas nach Hause gefahren. "Obwohl die Safier gemeint haben, das funktioniere nicht", sagt Angelika Bandli. Tut es aber offenbar doch. Regelmäßig durchwandert sie mit Tieren und Touristen das Safiental. Zu den Wasserfällen im Ortsteil Thalkirch oder auf schmalen Serpentinen den Glaspass hinauf, wo es so steil ist, dass schon nach wenigen Metern die Gespräche ersterben, obwohl es nur langsam vorwärts geht. "Die Lamas haben ihr eigenes Tempo", sagt Angelika Bandli, "sie zwingen den Touristen regelrecht zum Genuss der Landschaft." So geht es weiter hinauf, bis man fast senkrecht hinunter auf Safien sehen kann.

Es ist ein kleines Dorf, das vielleicht keine Zukunft hat. Denn die Schweiz will die Franken nicht länger über all ihren Gemeinden gleichermaßen ausschütten, für Bauern, Lehrer, Mehrzweckhallen. Nur noch diejenigen sollen subventioniert werden, die sich selbst entwickeln. Dünn besiedelte Täler ohne Ideen sollen sich entvölkern, wilde Landschaften hinterlassen.

Die Schweizer "Weltwoche" schrieb: "Dörfer mit weniger als 500 Einwohnern haben keine Chance." Safien hat 350 und eine Albtraumstraße, die viele Menschen davon abhält, das Dorf zu besuchen. Die holprige Schotterpiste, die sich vom Vorderrhein heraufschlängelt, ist so eng, dass keine zwei Autos aneinander vorbei passen. Im Winter ist sie glatt, im Sommer voller Matschlöcher. Rechts stehen dicke Fichten am Straßenrand, links droht ein Abgrund. 15 Kilometer geht es so, bis das knapp 3000 Meter hohe Wisshorn den weiteren Weg versperrt. Die Welt ist hier zu Ende.

Niklaus Geisshüssler hat sich von der Straße nicht abschrecken lassen. Er hat ein paar Mal Urlaub in Safien gemacht, hat die Steinböcke in den Felswänden gesehen und die kreisenden Steinadler. Und weil ihm das gefallen hat, hat er sich vor etwa einem Jahr hier ein Ferienhaus gekauft. Ein Entschluss, der sich für den Ort lohnen könnte, schließlich ist Niklaus Geisshüssler aus Luzern Unternehmensberater.

Einmal im Jahr berät Geisshüsslers Firma eine Gemeinde. Kostenlos. Das schöne und ruhige Safien ist ideal für Touristen. Also die Straße ausbauen. Doch das geht nicht, denn Safien hat kein Geld. Zudem ist die Straße Sache des Kantons. Graubünden baut, aber langsam. Erst in 25 Jahren wird die Straße komplett geteert sein.

Bleiben Visionen. In der neuen Mehrzweckhalle erzählt Geisshüssler 80 Safiern die Geschichte von dem Bergsteiger, der seine Eisen nicht in den Fels schlägt, weil er von hinten getrieben wird, sondern weil er hinauf will, weil der Berg seine Vision ist. Nur mit Visionen, mit neuen Angeboten im Dorf, könne man mehr Touristen überzeugen, die Holperstraße heraufzukommen. Dann lässt Niklaus Geisshüssler eine Liste herumgehen. Zehn Leute schreiben sich mit Ideen ein, zehn von 80. Es ist doch nicht einfach, eine Gemeinde wie Safien zu beraten.

Die Lamatrekkerin steht auf der Liste. Sie will Ernst machen mit dem Tourismus. Sie sagt: "Ein Taxi, das die Touristen in die vier Ortsteile bringt, ist eine Vision." Doch die Strukturen in Safien sind anders. Es gibt keine Tourismus-Profis, keine Werbestrategen, keine Eventmanager. Statt dessen gibt es Menschen, denen der Fremdenverkehr nicht ganz geheuer ist. Wie Armin Hunger.

Der Bauer, 30 Tiere im Stall, lebt von der Rindermast, von Kalbfleisch und Käse. Doch vor allem lebt er, wie fast alle hier, vom Staat. Menschenmassen behagen ihm nicht. Schon unten in Chur, 35 000 Einwohner und die Hauptstadt des Kantons Graubünden, fühlt er sich nicht wohl - zu viele Leute, zu viele Autos. "In Chur habe ich immer einen Sturm im Kopf", sagt er. In die Liste hat er sich nicht eingetragen. Armin Hunger, 51, kräftige Bauernhände, rote Wangen von dem Wind auf 1600 Metern: "Das sollen die Jungen machen".

Doch es gibt kaum mehr junge Leute in Safien. Sie gehen, weil sie keine Arbeit finden. Vor 150 Jahren hatte Safien noch mehr als doppelt so viele Einwohner. Geburten gibt es kaum, sieben in den letzten vier Jahren. Niklaus Geisshüssler will über Chancen reden: "Ihr müsst Euer Schicksal selbst in die Hand nehmen." Aber viele sind schon zufrieden, wenn das Vieh im Herbst wohlbehalten von der Alp zurück ist. Wenn der Arzt einmal die Woche das Tal heraufkommt, die Friseurin einmal im Monat. Zwischen 5000 und 7000 Übernachtungen zählt der Verkehrsverein pro Jahr. Angelika Bandli hätte gerne doppelt so viele. "Davon würden alle profitieren", sagt sie. "Ein paar Zugpferde würden ja schon reichen."

Die zehn Safier, die auf der Liste stehen, wollen diese Zugpferde sein. Doch zunächst müssen sie die Bedenken aus dem Weg räumen: Der Fremdenverkehr zerstöre die Natur, das Tal, das Dorf. Deshalb darf es nicht zuviel Tourismus sein. Das Taxi, neue Wanderwege, ein Klettersteig, Langlaufskiverleih vielleicht; Skilift auf keinen Fall. "Wir brauchen aber ein zusätzliches Hotel", sagt Angelika Bandli, die Zugezogene. Ihr Mann, der Einheimische, erwidert: "Eine Pension reicht."

In Safien wird sich so schnell nichts ändern. Doch zumindest für Besucher, die gerne auf Schotterpisten unterwegs sind, ihre Liegestühle mitten auf einer Straße aufklappen, um eine grandiose Landschaft zu betrachten, ist das wohl eher eine gute Nachricht.