Die Eisenbahn ist in der Schweiz oft kein normales Verkehrsmittel, sondern rollende Legende. Ein gutes Beispiel dafür: der Glacier Express.

Wer im Glacier Express sitzt, steht nicht draußen, wer draußen steht, sitzt nicht drin. Das ist durchaus ein Problem. Denn wer vom Waggon aus die Bergpanoramen genießt, kann nicht zugleich beobachten, wie sich der Zug durch die Schweizer Landschaft schlängelt, wie er über atemberaubende Viadukte fährt, wie er sich durch enge Kurven windet, wie er aus Tunneln auftaucht. Umgekehrt gilt entsprechend dasselbe.

Das ist nicht das einzige Dilemma. Denn wer in einem noblen Panorama-Wagen mit den riesigen Glasfenstern sitzt, genießt zwar maximalen Rundumausblick und vielsprachige Erläuterungen, aber er kann nicht die Kamera aus dem Fenster stecken. Ein Foto in der Kurve wäre aber die einzige Möglichkeit, Bahn und Landschaft gleichermaßen aufs Bild zu bekommen. Also gibt es nur eines: die Suche nach einem Ausguck.

Ich mache mich auf den Weg durch die Waggons, in denen neben allerlei Europäern vor allem Touristen aus Asien die Landschaft bestaunen; vorbei an der Küche, wo nicht etwa eine Mikrowelle aufwärmt, sondern ein leibhaftiger Koch knusprigen Braten tranchiert; durch den Speisewagen Gourmino, wo die Kellner, als gäbe es das Ruckeln und Wackeln nicht, den Schnaps aus Augenhöhe ins Glas auf dem Tisch plätschern lassen. Dann die Bar, sie hat an beiden Seiten winzige Schiebefensterchen, groß genug, das Objektiv hindurchzustecken und auf Kurven zu hoffen.

"Jetzt mußt du aber auf die andere Seite, gleich kommt eine Rechtskehre mit schönem Blick ins Tal! Jetzt kannst du dir Zeit nehmen, es beginnt erst mal ein langer Tunnel, und dann gehst du nach links!" Woher weiß dieser Mann das alles? Er sitzt am Tresen, verspeist genüßlich sein Bündner Fleisch, nippt gelegentlich an seinem Rotweinglas und beobachtet die Landschaft nur aus den Augenwinkeln. Meine Verwunderung amüsiert ihn und er verrät: "Ich bin diese Strecke 30 Jahre als Lokführer gefahren. Immer wieder die 91 Tunnel, 291 Brücken . . . " Also lasse ich den gedruckten Reiseführer mit all seinen Jahreszahlen, Streckenprofilen und Rollmaterial- Typenskizzen verschwinden und frage den lebendigen aus.

Othmar Müller heißt er, ist seit vier Jahren in Pension. In seinen Glacier Express ist er heute mal wieder gestiegen, weil diese Strecke im Jahr 2005 ihr 75jähriges feiert und er für eine Regionalzeitung etwas schreiben soll. "Der Lokführer tut eigentlich einen ganz einsamen Job", philosophiert Othmar. "Und es gibt wirklich Augenblicke, da kannst du nur bremsen und beten. Wenn du in eine Lawine fährst, Steinschlag herabprasselt oder du gerade noch durchkommst durch ein Unwetter. Aber nein", er winkt ab und läßt sich noch ein Schlückchen Rotwein nachschenken, "wirklich passiert ist mir nie etwas. Im Zug kommt man schließlich viel sicherer durch die Berge als im Auto. "

Der Glacier Express sei auch immer seine Lieblingsstrecke gewesen, schwärmt er. Manchmal fahre man in diesen knapp acht Stunden durch zwei oder drei Jahreszeiten, habe auf dem Oberalppass, wo die Schienen auf 2033 Metern liegen, häufig Winter, wenn es in den Tälern noch oder schon blüht. Und weil ein Lokführer ja nicht immer die ganze Strecke absolviert, sondern irgendwo schläft, lernt er die Leute kennen. Der italienische, romanische oder deutsche Menschenschlag ist doch ziemlich verschieden. Und dann die bahnverrückten Fahrgäste. Die kommen und diskutieren über jedes Schräubchen und wissen immer alles schon ganz genau, "na ja, diese Freude muß man denen lassen".

In St. Moritz, dem Zielbahnhof des Glacier Express, verliere ich Othmar aus den Augen. Schade, denn am nächsten Morgen wimmelt es am Bahnhof nur so von jener Art verrückter Fahrgäste, über die er sich so amüsiert. Der Bernina Express macht eine Sonderfahrt. Nein, eigentlich ist es nicht der fahrplanmäßige Bernina Express höchstselbst, sondern eine historische Bahn auf dessen Strecke zwischen St. Moritz über den Bernina-Pass hinab ins italienische Tirano. Diese neue Extratour "Rund um die Bernina", die ein Schweizer und ein italienischer Eisenbahnverein erstmals gemeinsam auf die Schienen gestellt haben, soll wiederholt werden (zum Beispiel am 30. Juli 2005). Sie führt über eine Dreiecksstrecke, bestehend aus der Tour über den Bernina-Pass, einer Dampflokfahrt durch das italienische Veltlin, einer Schiffahrt über den Comer See und Rückreise mit dem Postbus.

Heute also Premiere. Die kundigen Freaks fiebern vor allem der Dampflok der zweiten Etappe entgegen. Ich weiß dagegen nur: Ich sitze im ältesten Wagen der Rhätischen Bahn aus deren Gründungsjahr 1881. Der sieht historisch aus, fühlt sich hart an und ist vermutlich der einzige Waggon dieser Welt, für den eine eigene Hymne komponiert wurde. Und man hat die Probleme nicht: Auf dem Fahrplan stehen Fotostopps, so daß der Drinnen-oder-draußen-Konflikt gelöst ist. Und schnell habe ich auch herausbekommen, wie man mittels eines dicken Lederbandes das Fenster zum Hinauslehnen versenkt.

Los geht es also, immer hinauf. Alles Sommerliche bleibt zurück. Die Passagiere des Aussichtswagens, der oben ohne unterwegs ist, holen Mützen und Schals heraus und halten ihre Kameras mit klammen Fingern. Auf dem Pass beim mit weißer Gletschermilch gefüllten Lago Bianco liegt sogar Schnee. Was die Freaks nicht davon abhält, das Angebot eines Fotostopps begeistert anzunehmen. "Fotolinie hier", schreit der Organisator der Tour und weist den Leuten mit den Kameras ihre Positionen zu. Die fügen sich bereitwillig und reihen sich am Bahndamm auf. Der Zug mit den wenigen gebliebenen Fahrgästen stößt zurück und rollt dann langsam auf die Knipsenden und Filmenden zu, bremst, läßt alle wieder einsteigen. Diese Prozedur wiederholt sich noch mehrmals auf der Tour, vor allem dort, wo der Autofahrer nicht parken und einfach fotografieren könnte.

Solcherart Aussteigemöglichkeit auf freier Strecke bietet der ganz normale Bernina Express natürlich nicht. Der richtet sich streng nach seinem Fahrplan, die Strecke von Chur hinauf auf den Bernina Pass und hinab bis nach Tirano darf vier Stunden dauern, ab St. Moritz zweieinviertel.

Jede Menge Superlative hat die Tour zu bieten: Die Bernina ist die höchste Bahnverbindung, die offen, also ohne Scheiteltunnel, über die Alpen führt. Vom höchsten Punkt der Reise, dem Bernina-Pass mit dem Ospizio Bernina auf 2253 Metern, rollt der Zug auf 429 Meter nach Tirano hinab. Auf fünf Kilometern Luftlinie hat er dabei 1000 Höhenmeter zu überwinden. So bewältigt die Bahn ein Gefälle oder umgekehrt eine Steigung von bis zu sieben Prozent. Das bedingte den Bau von raffinierten Kehren und Schleifen, die den Reisenden immer wieder mit Ausblicken verblüffen.

Unter Touristikern ist man sich zwar einig, daß der Glacier Express die berühmtere Schweizer Strecke ist, schon weil sie die Nobelorte St. Moritz und Zermatt verbindet. Unter Eisenbahnliebhabern wird der Bernina Express jedoch als die bahntechnisch raffiniertere gehandelt.