Graubünden: Ein kleines Dorf unter dem Julierpass hat zwar nur ein paar Lifte, punktet dafür aber mit schöner Landschaft und viel Freundlichkeit.

Bivio. Die meisten Einwohner sprechen Deutsch als Muttersprache, doch in der Schule wird Italienisch unterichtet. Der Gemeinderat debattiert Deutsch, das Protokoll muss Italienisch abgefasst sein. Der Sprachwirrwar in Bivio geht so weit, dass Sprachforscher dem kleinen Dorf unter dem Julierpass die kuriosesten Sprachverhältnisse Europas bescheinigen. Denn hier ist auch Romanisch Amtssprache, und das wird in zwei Versionen gesprochen. Zu allem Überfluss lebt auch noch das Bergaiot, ein italienisch-lombardischer Dialekt.

Bivio ist kein Name für das totale Skierlebnis. Hier gibt es keine vollautomatischen Seilbahnanlagen, Skischaukeln und Liftverbünde, keine Aufsehen erregenden Kanonenrohrabfahrten. Der Name steht für etwas, das heute so selten geworden ist: Winterurlaub der anderen Art in einem ursprünglich gebliebenen Bündner Winterdorf, in dem alle den Besucher spüren lassen, dass er sich bei ihnen zu Hause fühlen soll. Für ein Dorf mit etwa 250 Einwohnern und knapp 1000 Fremdenbetten lohnt es sich nicht, aufwendige Seilbahnen zu bauen oder ständig die Lifte zu modernisieren. Norbert Elsa, Präsident des Kur- und Verkehrsvereins: "Wir haben nur Schlepplifte in unserem Skigebiet. Mehr können wir nicht bieten."

Tatsächlich bietet Bivio seinen Gästen viel mehr. Wenn etwa unsicheren Skiläufern die Auffahrt mit einem der Schlepplifte hinauf ins Skigebiet zu beschwerlich erscheint oder wenn einfach nur Gäste ohne Bretter zum kleinen Bergrestaurant Camon bei der Mittelstation wollen, um in der Sonne zu sitzen und die Aussicht zum Julierpass zu genießen, werden sie kurzerhand in ein Pistenfahrzeug gesetzt und in die Höhe gebracht. Das sei doch selbstverständlich und kein Ausnahmefall, versichert der Betriebsleiter der Liftanlagen, Vitus Caduf, der gleichzeitig Direktor des Kur- und Verkehrsvereins ist.

Nahe Camon treffen die beiden Schlepplifte zusammen, hier übernimmt der zum Mot Scalotta hinaufführende Gipfellift die Pistenjünger, die etwas anspruchsvollere Abfahrten genießen wollen. Wobei für das rund 40 Pistenkilometer umfassende, sanft geneigte, baumlose Skigebiet die Betonung vor allem auf Genießen liegt.

Die Aussicht von der Sonnenterrasse der in 2198 Metern Höhe gelegenen Camonhütte ist faszinierend. Gegenüber schaut man auf die Julierstraße, die sich von Bivio hinaufwindet, am kleinen Julier Hospiz vorbei und in der Höhe im Bergeinschnitt verschwindet. Und ein wenig weiter westlich ist die alte Trasse der Septimerstraße zu erkennen, die von Bivio einst hinüberzog ins Bergell. Zur Römerzeit gehörten beide Pässe zu den wichtigsten in Rätien, im Verzeichnis der Militärstraßen der Römer stand der Septimer an siebter Stelle - daher sein Name. Dem Zusammentreffen der beiden Straßen verdankt Bivio nicht nur seinen Namen "Zweiweg", sondern für Jahrhunderte einen beachtlichen Wohlstand. Viel ist davon im Ortsbild nicht mehr zu erkennen, obschon an manchen Häusern noch die Jahreszahlen aus dem 16. Jahrhundert aufscheinen. Ein Kleinod ist der Altar in der schlichten Dorfkirche St. Gallus, der 1522 von Ivo Strigel erschaffen wurde. Er zählt zu den bedeutendsten Kunstwerken gotischer Schnitzkunst im gesamten Alpenraum.

Während die modern ausgebaute Straße zum Julierpass die winterfeste Alpenquerung Graubündens ist, die schnellste Straßenverbindung zwischen Chur und St. Moritz, lebt der Passverkehr über den Septimer nur noch in der Geschichte. Erst im Spätwinter gewinnt er Bedeutung als Tourentrasse, schließlich ist das kleine Bivio ein interessantes Tourenzentrum.

Aufgrund der ringsum nur sanft geneigten Hänge ist das Skigebiet wenig durch Lawinen gefährdet. Da gibt es Skitouren auf die umliegenden Gipfel, in anderthalb Stunden gelangt man von der Bergstation des Schleppliftes auf dem 2560 Meter hohen Mot Scalotta zum knapp 3000 Meter hohen Forcelinapass. Andere Touren ziehen sich über einen ganzen Tag hin, manche auch über zwei Tage (mit Hüttenübernachtung), wenn es auf den Piz d'Err gehen soll.

Tourengehen ist natürlich nicht jedermanns Sache. Winterliche Alternativen sind aber durchaus verhanden. So werden Mondscheinfahrten ab Restaurant Camon angeboten, oder Fackelabfahrten jeden Freitag im Februar ebenfalls ab Camon. Beliebt sind auch die Schlittenwanderungen auf die Alp Flix. Nach einer rasanten Abfahrt von dreieinhalb Kilometern Länge gibts dann einen Racletteplausch in Sur unterhalb von Bivio, ehe ein Taxi die Teilnehmer wieder zurückbringt. Und wer sein Geschick lieber auf zwei schmalen Kufen als auf Brettern versucht, der kann den abends beleuchteten Natureisplatz nutzen.