Neben gediegenem Ambiente findet der Besucher kuschelige Szeneviertel mit viel südlichem Flair.

Gianna Loredan Mestermann, fröhlich, umtriebig und polyglott, hat deutsche, französische und römische Wurzeln - wie Genf, ihre Wahlheimat. Und so wie diese feine, kleine Weltstadt lässt sich auch Gianna nicht festlegen auf nur ein Lebensgefühl. Sie trägt tagsüber, etwa beim Bummel durch die Altstadt, am liebsten Jeans. Nachmittags, wenn sie ihre Freunde in den Teesalons der Luxushotels an den Genfer Seeufern trifft - stets mit Blick auf das Wahrzeichen von Genf, den Jet d'eau, eine bis zu 150 Meter hoch aufschießende Fontäne - passt sie sich im Cocktailkleid dem Stil der Stadt an. Abends mag bei Gianna der Rolli durchaus mal mit der Robe konkurrieren. So ist Genf: gediegen und nobel, wie man es erwartet hat, aber auch voller romantisch-romanischer Lebensfreude, mit einem südlich wirkenden Flair, mit dem es immer wieder seine Besucher überrascht.

Gianna ist Stadtführerin, eine Begleiterin, die den Charme dieser international geprägten Metropole spiegelt, die ihre Stadt liebt und deshalb auch den einen oder anderen Geheimtipp verrät beim Bummel links und rechts von Rhône und Lac Leman, wie der Genfer See in Genf genannt wird. Auch Zitate holt sie gern aus ihrem Fundus, vor allem, wenn die den kosmopolitischen Charakter verdeutlichen.

So soll der französische Staatsmann Charles Maurice Talleyrand bei der Aufzählung der Erdteile Australien ausgelassen, dafür aber Genf in eine Reihe mit Europa, Asien, Afrika und Amerika gestellt haben. Das war vor fast 200 Jahren. Damals gehörte die Stadt, als Hauptstadt des Departements du Leman, noch zu Frankreich. 1814 schloss es sich dann aber als 22. Kanton der Schweizer Eidgenossenschaft an. Schon bald machte Genf weltweit von sich reden: als Sitz des Komitees vom Internationalen Roten Kreuz, das ein Sohn der Stadt, Henri Dunant, 1863 gegründet hatte.

Nach dem Ersten Weltkrieg ließ sich die Internationale Arbeitsorganisation hier nieder. Kurz darauf machte der Völkerbund, Vorgänger der UNO, von Genf aus Schlagzeilen. Heute ist die Stadt zwischen den Weinbergen, den schneebedeckten Gipfeln des französischen Jura und dem Genfer See fast so international wie New York, nur viel überschaubarer und liebenswürdiger. Etwa 200 Organisationen, von der Welt-Fernmeldeunion bis zur Weltgesundheits- und Welthandelsorganisation, vom Ökumenischen Weltkirchenrat bis hin zum Weltbund der Meteorologen, haben hier ihren Sitz. Genf ist außerdem Drehscheibe der wichtigsten Konferenzen der internationalen Hochfinanz, ein Mekka der Gourmets, ein weltberühmter Treffpunkt für Kunstsammler und Cineasten, vor allem aber wichtigster und größter Außenposten der Vereinten Nationen. Jeder fünfte Genfer, das sind etwa 40 000 von knapp 200 000 Einwohnern, arbeitet in einem der hochgradig gesicherten Büros, die so gut wie alle Lebensbereiche fast aller Nationen repräsentieren.

Gianna zeigt ihren Gästen die Paläste und Hallen links und rechts vom Platz der Nationen, aus denen die Welt nicht unwesentlich beeinflusst wird. Sie kennt die legendären Herbergen am rechten Ufer, das Hotel "de la Cigogne", das "de la Paix" und erst recht das "Beau Rivage", in dem Kaiserin Elisabeth von Österreich ("Sisi") 1898 nach einem Attentat starb und Sarah Bernhardt, die berühmteste Schauspielerin ihrer Zeit, vor gut hundert Jahren eine Zeitlang gewohnt hat und wo Uwe Barschel 1987 unter mysteriösen Umständen ums Leben kam.

Gianna ist auch in den feinen Geschäften zu Hause, die man überall auf der Welt kennt, bei Davidoff zum Beispiel, dem Tempel der Zigarren-Liebhaber in der Rue de Rive, dessen erster Kunde Lenin gewesen sein soll, und natürlich bei den Uhrmachern und Juwelieren im Viertel zwischen Bahnhof und Rhône-Ufer, Piaget und Patek Philippe, Rolex und Franck Muller. Preisschilder sieht man in diesen Läden kaum, dafür aber gruppenweise Scheichs und neureiche Russen. Auch Schokolade, angeblich die beste der Welt, wird hier in Gebinden wie von Tiffany verkauft, etwa bei Faverger in der Altstadt.

Das ist nun das Viertel, das Gianna besonders liebt. Von der breiten Rue du Rhône, parallel zum linken Seeufer, durch die Rue de la Fontaine, hinein ins Quartier der engen Gassen. Hier ein Blick in eine schöne, altmodische Werkstatt geworfen, dort in einen Hinterhof, dessen graue Fassaden kreativ mit üppig bepflanzten Blumenkübeln verdeckt sind. Durch die Passage Mathurin-Cordier hoch zum 450 Jahre alten Collège von Jean Calvin, dem strengen Reformator. Heute parken hundert und mehr Mopeds vor der Akademie.

Junge Leute trifft man in den alten Gemäuern und auf altem Pflaster, am häufigsten auf der Place Bourg-de-Four. Dort, in den Cafes und Bars, geht es zu wie auf dem Montparnasse in Paris: Sehen und gesehen werden, leben und leben lassen, das sind hier die Devisen. Den Rhythmus des Tages gibt die große Glocke des benachbarten Temple de St. Pierre vor, der Kathedrale, die die Deutschschweizer gern "ihren Petersdom" nennen. Der Geruch des Geldes wird in diesem Quartier weit weniger streng empfunden als an den Quais und in den Luxuspassagen der Rue du Rhône. Gianna grüßt den kauzigen Buchhändler und den singenden Gemüsehändler. Sie empfiehlt im "Cafe Papon", direkt hinterm Rathaus, Hachis de Poissons, einen Auflauf mit Fischen aus dem Lac Leman, 32 Sorten sollen im See leben.

Es ist kalt geworden in Genf. Aber die Stadt leuchtet und blüht noch immer. Alle Bäume, ob Buchen, Pappeln oder Platanen, sind jetzt zu Lichterbäumen geworden, illuminiert und bemalt. Vielerorts klingt sogar dezente Musik aus den Kronen. Der Blumenmarkt im Pavillon am Place du Molard hat sowieso durchgehend Saison. Die alten Seedampfer mit den langen Schornsteinen passen ihr Programm allerdings der Jahreszeit an, sie laufen nun aus zu Kreuzfahrten mit Punsch und Käsefondue - bis der See zwischen den Hotelufern zufriert, wie zuletzt vor drei Jahren.

Die Cafes haben ihre Terrassen zwar längst geräumt; man hockt , wie es in der Schweiz heißt, jetzt an den Öfen und Kaminen, zum Beispiel in den Szenevierteln Paquis, Eux-Vives und erst recht draußen in Carouge, das von Genf nur durch das Flüsschen Arve getrennt ist. Dort trifft sich die große weite Welt mit Künstlern und Lebenskünstlern, zum Beispiel im "Cheval Blanc", dem ältesten Restaurant im Städtchen vor den Toren Genfs.

Genf, so sagt Gianna zum Abschied, lebt nicht vom Glanz vergangener Zeiten, Genf sonnt sich im goldenen Licht der Gegenwart, auch im Winter und sogar in der Jugendherberge. Dort, mitten in der Stadt, nur ein paar Minuten vom Luxus entfernt, erinnert immerhin noch die Adresse ans große Geld: Rue Rothschild. Die Übernachtung kostet nur 50 Euro im Doppelzimmer und gerade mal 17 im Schlafsaal . . .