Morgens um sieben sichtet der erste Online-Redakteur Nachrichten. Nach Mitternacht wird die letzte Zeitungsmeldung aktualisiert.

Hamburg. Im Grunde handelt es sich um einen großen, komplexen Organismus, der lebt, atmet und nachdenkt, der fest mitten im Leben steht, Augen und Ohren stets wachsam geöffnet hat, der mit empfindsamen Sinnen jede Erschütterung seines Umfeldes registrieren, seine Arme weit ausstrecken und bei Bedarf blitzartig reagieren kann.

Man stelle sich das Hamburger Abendblatt getrost als einen solchen Organismus vor, mit der Chefredaktion als Kopf, den verschiedenen Ressorts als Organen, von denen, wie im richtigen Leben, keines entbehrlich ist, und mit seinen Redakteuren, Reportern, Korrespondenten als Sinne und Extremitäten.

Es ist ein Organismus, der mit sehr wenig Schlaf auskommt. Das Abendblatt erwacht früh, um sieben Uhr morgens, und ist sofort hellwach. Derart kleine Zahlen sind auf den Weckern der klassischen Redakteure nicht einmal drauf. Die Kollegen der Online-Redaktion sitzen zu dieser Stunde bereits an ihren Computern und werfen ihre elektronischen Netze nach relevanten Nachrichten aus. Das Wort Zeitung bedeutete schließlich ursprünglich Nachricht - auch im Internet-Zeitalter bleibt die Nachricht das Wichtigste.

Agenturen aus aller Welt werden durchleuchtet, die Online-Ausgaben internationaler und nationaler Zeitungen ebenso. Dann werden Nachrichten angefertigt, Dossiers über kompliziertere Sachverhalte angelegt, Videos der Agenturen werden heruntergeladen; aber auch Filmteams losgeschickt. Das bewegte Bild, manchmal in der Tat mehr wert als tausend Worte, ist ein Mehrwert, den die Online-Leser auf www.abendblatt.de finden können. Rund 15 Kollegen umfasst diese Redaktion, das jüngste Kind der Zeitungsbranche, darunter etliche freie Mitarbeiter. Die da an den Computern sitzen und Nachrichten für die Leser produzieren, sind studierte Philosophen, Sprachwissenschaftler, Politologen.

Schon bald nach der Online-Redaktion erwacht das größte Organ des Abendblattes: die Lokalredaktion. Der Diensthabende - der Lokalchef selber oder einer seiner Stellvertreter - telefonieren bei Bedarf frühmorgens mit Reportern, die sie zu einer aktuellen Recherche schicken - meistens mit einem Fotografen. Das kann ein Politiker-Rücktritt in der Hansestadt sein, eine gesunkene Barkasse oder ein Lebensmüder, der in 40 Meter Höhe auf einem Baukran steht.

Bereits kurz nach neun Uhr ist die Polizeiredaktion besetzt - diese fünf Experten, unter ihnen ein Fotograf, halten praktisch rund um die Uhr Kontakt zu Polizei und Feuerwehr und peilen die Nachrichtenlage. Um halb zehn erstattet der zuständige Redakteur vorläufigen Bericht an den Nachrichtenführer der Lokalredaktion. Der arbeitet unterdessen emsig an seinem Programm für den Tag, das er um halb elf auf der internen Konferenz des Ressorts besprechen will. Zu dieser Besprechung versammeln sich alle Lokal-Mitarbeiter, sofern sie nicht frei haben oder bereits irgendwo in der Stadt im Einsatz sind. Ein selbstkritischer Blick aufs Blatt, dann werden Aufgaben verteilt, Personalien verkündet, Probleme erörtert.

Inzwischen ist der gesamte Abendblatt-Organismus auf Betriebstemperatur. Auch in den übrigen Ressorts, in der Politik etwa, in der Wirtschaft, der Kultur, dem Sport, dem Allgemeinen oder der Wissenschaft, sitzen Diensthabende an ihrem Tagesprogramm, entwickeln mit den Kollegen Ideen, verteilen Aufgaben.

Die große Hauptkonferenz der Zeitung um zwölf Uhr ist dann der tägliche Höhepunkt im Routineablauf. Dutzende Redakteure, Layouter und andere Mitarbeiter im großen Produktionsraum. Der lange Produktionstisch ist der Platz des Chefredakteurs, eines seiner Stellvertreter und der Chefs vom Dienst, die den Produktionsablauf der Seiten steuern. Der "Blattmacher" des Tages, jenes Mitglied der Chefredaktion also, das für die Ausgabe des nächsten Tages verantwortlich ist, hat seit neun Uhr in seinem Büro mindestens ein halbes Dutzend Zeitungen gelesen, hat Radio gehört, Termine abgesprochen und bei akutem Bedarf mit den Ressorts Kontakt aufgenommen. Der "Blattmacher" ist, ähnlich dem Bundeskanzler, mit einer Art Richtlinienkompetenz ausgestattet - letzten Endes entscheidet er über den Inhalt der Zeitung.

Alles wartet nun auf den Chefredakteur, vorher wird nicht angefangen. Er nimmt am Kopf des langen Produktionstisches Platz, dem "Balken".

Lob und Kritik werden sodann - nicht nur vom Chefredakteur, sondern von allen anwesenden Redakteuren - verteilt, Letzteres möglichst nicht vernichtend, denn Journalisten sind, entgegen ihrem Ruf, auch Menschen. Und meist hochsensible dazu. Personalien werden verkündet und neue Kollegen vorgestellt.

Schließlich geht man mehr oder minder entspannt zur Tagesordnung über - dem Blatt von morgen. Die Lokalredaktion beginnt mit ihrem Vortrag und stellt die wichtigsten Themen der Stadt vor. Nach und nach folgen in einer festen Reihenfolge alle Ressorts. Ab und zu fragt der Blattmacher: "Und was macht ihr auf?" Die Zeitung nimmt, zumindest vorläufig und erst einmal in den skizzenhaften Notizen des Blattmachers, erste Konturen an. Wie Rauch im Wind kann das bislang Erarbeitete jederzeit verweht werden, wenn sich die Nachrichtenlage ändert. Ich erinnere mich da an den 11. September 2001. Ich arbeitete gerade an einem eher mäßig spannenden Thema, als mein Blick auf den stumm geschalteten Fernseher neben mir fiel. Der US-Sender CNN berichtete, dass ein Flugzeug in das World Trade Center gerast sei ... Der Tag verlief dann deutlich anders als geplant.

Nachdem alle Ressorts gehört wurden, beschließt der Blattmacher, welches Thema der "Aufmacher" des Abendblattes, was kommentiert, wer "Menschlich gesehen" werden soll und was das Thema des intern "Fußkasten" genannten, eher heiter betrachtenden Textes am Fuß der Seite eins sein soll. Die Persönlichkeit des "Silberrückens" prägt alle diese Entscheidungen - entweder in fruchtbringender Debatte oder in umwölkter Einsamkeit. Danach sind die Kollegen froh, die mit ihren Vorschlägen Erfolg hatten, und andere eher unfroh, wenn die Würfel doch anders gefallen sind.

Am Ende dieser Konferenz findet ein Defilee an einem langen Tisch statt: Hier präsentiert die Fotoredaktion die Ausbeute des bisherigen Tages, und jeder kann sich im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild davon machen, was auf der Welt passiert.

Der Blattmacher bittet nun Kollegen besonders von der Nachrichtenlage betroffener Ressorts zu einer Konferenz im kleinen Rahmen, während alle anderen ihren Arbeitsplätzen in den diversen Abteilungen zustreben.

Inzwischen hat die Anzeigenabteilung den elektronischen Spiegel der Anzeigenbelegung in die Redaktion gesendet. Eine Zeitung kann sich nicht allein von Straßenverkauf und Abonnement finanzieren; die Anzeigenerlöse decken einen erheblichen Teil der Kosten; ohne Anzeigen müssten Zeitungen zwei- bis viermal mehr kosten als jetzt.

In den Ressorts verteilen derweil die Nachrichtenführer die anstehende Arbeit an die Kollegen, soweit das noch nicht geschehen ist. Viele der Redakteure haben im Laufe der Jahre ein Spezialwissen erworben, dass sie für bestimmte Themen automatisch qualifiziert. Sei es Energie- oder Gesundheitspolitik, das Geschehen in Nahost oder bei der GAL, im Theater, dem Landgericht oder beim HSV.

Nach einem kurzen Essen in der Kantine geht nun der Wettlauf der Ressorts um die Layouter los, die am Bildschirm ein virtuelles Abbild der Zeitungsseite erstellen - mit einer Art von Hülsen für Texte, Überschriften, Bildunterschriften, Zwischenzeilen oder Vorspänne. Es gilt für die bearbeitenden Redakteure später, diese Hülsen mit sinnvollem Inhalt zu füllen. Noch einmal ruft der Blattmacher Vertreter der Ressorts um halb drei zu einer Folgekonferenz zusammen. Es wird kurz abgeklärt, ob und wie sich die Lage verändert hat und wie dies journalistisch aufzufangen sei.

Nach und nach stellen die Layouter alle Seiten fertig, sofern es sich nicht um Vorprodukte handelt, die bereits gedruckt sind und dem Blatt nachts nur noch beigelegt werden müssen.

Mittels eines Tableaus auf dem Bildschirm kann man nun den Fortgang der Arbeit verfolgen: Im Laufe des Nachmittags und des Abends füllen sich immer mehr Seiten, springen die Farben der Hülsen von Orange auf Grün - die Zeitung entsteht.

Doch Blattmacher und Nachrichtenführer haben ständig ein Auge auf die aktuelle Lage. Tritt Hamburgs Bürgermeister überraschend zurück, erleidet der US-Präsident einen Unfall oder verheert ein Tsunami die Küsten Asiens, fängt alles wieder von vorn an. Krisenkonferenz, Sammeln von guten Ideen, Entscheidungen, Neuverteilung der Arbeit.

Aber auch ohne großen Rücktritt oder Tsunami wird immer wieder nachjustiert. Die Ressortleiter und Nachrichtenführer sprechen mit ihren Redakteuren: Was hat die aktuelle Recherche ergeben? Ist die Geschichte noch spannender geworden oder hat sie an Brisanz verloren? Hat der notwendige Informant endlich zurückgerufen? Gibt es Bilder zu der Geschichte? Haben wir diese Nachricht exklusiv? Wann können wir einen ersten Extrakt der Geschichte online stellen? Die Antworten auf all diese Fragen sind wichtig für die richtige Planung der aktuellen Webseite und der Zeitung von morgen. Über Veränderungen und Neuentwicklungen wird der Blattmacher sofort informiert.

Und nebenbei wird Post erledigt, papierne und elektronische, werden Anrufe von Lesern entgegengenommen, man kocht sich Kaffee, füllt Urlaubsanträge aus und bucht eine Dienstreise, unterstützt von den unermüdlichen Sekretärinnen. Ein Text, an dem man zwei Tage gearbeitet hat, ist plötzlich vom Bildschirm verschwunden, Kollegen der Technik spüren ihn tief im Bauch des Redaktionssystems wieder auf.

Zwischen 19 und 20 Uhr ist in den meisten Ressorts die Hauptarbeit getan; wer fertig ist, nicht in einem Spätdienst steckt oder ein "spätes" Thema bearbeitet, strebt allmählich nach Hause. Doch der Organismus Hamburger Abendblatt läuft immer noch auf Touren, kommt noch lange nicht zur Ruhe. Da gibt es die Spätdienste, die bis Redaktionsschluss die Seiten fertig produzieren und aktualisieren, dann die Sportredakteure, die auf das Ergebnis eines Fußballspiels warten, die Kollegen von der Kultur und von LIVE, die in einer Premiere oder einem Rockkonzert sitzen. Auch die Rathaus-Reporter sind meist noch im Einsatz: Sie senden noch Berichte aus der Bürgerschaft, telefonieren der aktuellen Koalitionskrise hinterher oder verfolgen die Diskussionen beim Landesparteitag. Irgendwann am Abend klingelt wahrscheinlich auch noch ein Kollege aus der Polizeiredaktion beim Lokalchef durch: "Wir haben da noch einen Mord in Langenhorn. Der Täter hat sich in der Wohnung verschanzt. Ich bin unterwegs und melde mich ..."

Der Blattmacher nimmt unterdessen nach und nach die ersten fertigen Seiten der Ressorts ab. Hier ändert er eine Überschrift, dort muss der Einstieg in eine Geschichte umgeschrieben oder eine Meldung ausgetauscht werden. Auch Layouter und Korrektoren sind noch da, und die Nachtredakteure finden sich nun ein, die fast bis ein Uhr nachts "schieben" können, wie die Aktualisierung unter Anfertigung einer neuen Druckplatte in der Ahrensburger Druckerei genannt wird.

Normaler Redaktionsschluss ist um 22 Uhr. Dann müssen die letzten Seiten nach Ahrensburg gefunkt sein, wo der Druck beginnt. Nun hängt es von der Nachrichtenlage ab, ob der Blattmacher und seine Getreuen auch nach Hause gehen können.

Doch im Kanzleramt läuft gerade eine Krisensitzung des Kabinetts unter Leitung der Bundeskanzlerin. Möglicherweise ist noch eine politisch schwerwiegende Entscheidung zu erwarten. Also rufen die Kollegen ihre Frauen an ("Schatz, es wird wieder mal später"). Und bleiben noch eine Weile. Journalisten haben statistisch betrachtet erhöhte Scheidungs- und Sterberaten.

Wenn dann morgens gegen halb fünf die ersten Zusteller mit dem druckfrischen Abendblatt losradeln, dauert es nur noch zweieinhalb Stunden, bis die ersten Mitarbeiter der Online-Redaktion an ihren Arbeitsplätzen erscheinen. Der Organismus Hamburger Abendblatt hat praktisch keine Ruhe gehabt. Und das ist gut so. Denn anders als Mensch oder Tier würde eine Zeitung sterben, wenn sie einschlafen würde.