Axel Springers Idee wurde belächelt - aber schon bald hatte das Abendblatt Hamburg erobert.

Hamburg. "Unter dem vorläufigen Titel ,Hamburger Abendblatt' soll im Herbst eine neue überparteiliche Tageszeitung erscheinen." Mit diesen dürren Worten melden die Hamburger Zeitungen, dass am 12. Juli 1948 Axel Springer im Rathaus den Vorzug vor drei Mitbewerbern bekommen hat. Sie ahnen: Der 36 Jahre junge Verleger, der mit seiner "Hörzu" einen fulminanten geschäftlichen Erfolg hingelegt hat, wird mit seiner überparteilichen Zeitung zur harten Konkurrenz.

Schon im August 1945 hatte Springer die Lizenz für einen "Hamburger Telegraf" beantragt - unabhängig, überparteilich. Sein Freund Max Schmeling half ihm, Kontakte zu den Briten zu bekommen. Doch die wollten Parteizeitungen, Springer zieht den Antrag zurück. Er verlegt damals die "Nordwestdeutschen Hefte", "Constanze", "Kristall" und Bücher.

An seiner Tageszeitung bastelt er trotzdem weiter. Im November 1947 produziert er den ersten Probedruck für eine Zeitung namens "Excelsior". Er hat wieder einen Lizenzantrag eingereicht: für ein "Hamburger Abendblatt". Überparteilich soll es sein, wirtschaftlich unabhängig, "die Menschen menschlich ansprechen, sie in ihrer privaten Sphäre verstehen". Und mit Nachrichten, "die den Leser nahe angehen".

Springer klebt Seiten zusammen, testet Schrifttypen, prüft Entwürfe für den Zeitungskopf. Als der Verlag Hammerich & Lesser aus einem Bunker am Heiligengeistfeld im Frühjahr 1948 in ein Hinterhaus der Volksfürsorge, An der Alster 61, umzieht, fehlt fast alles. Springer kümmert sich um Personal und Setzmaschinen. Autos fehlen - und Wohnungen für die Mitarbeiter.

Dennoch hat er diesmal bessere Karten für seinen Zeitungstraum, denn im Dezember 1947 haben die Briten die Pressezulassung den deutschen Behörden übergeben, und Bürgermeister Max Brauer kündigt ihm im Juli 1948 an: "Axel, jetzt kannst du deine Zeitung machen."

Am 15. August 1948, es ist ein Sonntag, so erinnert sich Carl Friedrich Mossdorf, damals Sportredakteur und inzwischen der Letzte, der die Vorbereitungen zum Abendblatt-Start noch selbst miterlebt hat, erläutert der Verleger 20 Herren der künftigen Zeitung in seiner Wohnung an der Elbchaussee die Ideen für das neue Projekt. Bald werden drei Probeausgaben produziert.

Gedruckt werden soll das Abendblatt bei Broschek an den Großen Bleichen, dessen "Hamburger Fremdenblatt" nach dem Krieg nicht mehr erscheinen darf, weil es als gleichgeschaltete Zeitung den Briten als "belastet" gilt. Anfangs - wegen des Papiermangels - nur montags, mittwochs und sonnabends.

Weil der erste Mittwoch ein 13. gewesen wäre, verschiebt der abergläubische Verleger den Start auf Donnerstag, den 14. Oktober. Die 60 000 gedruckten Abendblatt-Exemplare sind in nur vier Stunden ausverkauft. Und die Meinungen geteilt. Der rauschenden Premieren-Party mit Hans Albers, Bürgermeister Max Brauer, Presseoffizieren der Alliierten und Gästen aus Wirtschaft, Kultur und Politik und ihren Glückwünschen folgen Unkenrufe der Konkurrenz: "In absolut hoffnungsloser Position hat ein Sterngucker den Mut gefunden, hier in Hamburg eine neue Zeitung zu starten. Sie wird in die gesättigte Zeitungslandschaft hinein nicht mehr erfolgreich operieren können."

Doch Springer sieht für sein Hamburger Abendblatt eine große Zukunft. Er weiß, warum. Gegenüber Hermann Rockmann vom Nordwestdeutschen Rundfunk erläutert er sein Konzept: "Eine Zeitung mit Herz, eine Zeitung, die den Menschen in den Mittelpunkt ihrer ganzen Betrachtungen stellt. Wir suchen die vernünftigen Stimmen, ob sie von links, von rechts oder aus der Mitte kommen. Wir hassen die Langeweile, wir versuchen eine Zeitung zu machen, die kurz formuliert, die von der ersten bis zur letzten Zeile interessant ist und vielleicht auch besonders die Frau interessieren wird."

Seine Redakteure treibt er unermüdlich an: Was bewegt unsere Leser, wenn sie müde von der Arbeit nach Hause kommen? Die Antwort gibt er gleich selbst: Sie wollen lesen, was in ihrer Umgebung passiert. Alles, was für diese Stadt und das Leben hier wichtig ist. "Und wir wollen den Lesern wohltun." Das ist neu.

Papierkontingente werden nach dem Krieg nach den vermuteten Wählerpotenzialen zugeteilt. Anfang 1948 gibt es das "Hamburger Echo" (SPD) mit 229 000 Exemplaren, die "Hamburger Allgemeine" (CDU) mit 138 000, die "Freie Presse" (FDP) mit 95 000 und die "Volkszeitung" (KPD) mit 41 000. Dazu kommen in Hamburg 80 000 Exemplare der von den Briten kontrollierten Zeitung "Die Welt". Jede Nachricht wird nach Parteilinie oder nach britischem Interesse bewertet und kommentiert. Politik hat Vorfahrt, das unmittelbare Lebensumfeld der Menschen tritt weit zurück.

Trotzdem wird Zeitung gelesen. Nach dem Krieg und Untergang des Nationalsozialismus suchen die Menschen neue Orientierung und lesen, was immer sie in die Finger bekommen. Aber nicht jeder, der zehn Zeitungen kauft, gibt sie interessierten Nachbarn weiter. Vielleicht will er nur tapezieren, Fenster abdichten oder heizen.

Dass am Abendblatt vieles anders ist, zeigt schon die erste Ausgabe (s. Seite 84-92). Nicht nur das "unabhängig - überparteilich" und das Motto "Mit der Heimat im Herzen die Welt umfassen" rund um das mittelalterliche Stadtsiegel (s. unten). Ungewohnt ist auch das "Menschlich gesehen", das Porträt eines Mitbürgers (s. Seite 22). Es hat bis heute Bestand.

Nur eines ist nicht neu: der Name. Vier Hamburger Zeitungen hatten zuvor das "Abendblatt" im Titel, auch ein "Hamburger Abendblatt", das am 2. Mai 1820 gegründet worden war. 92 Jahre danach ist ein 2. Mai der Geburtstag von Axel Springer, der jetzt das zweite "Hamburger Abendblatt" gegründet hat.

Neben politischen Nachrichten aus Hamburg und der Welt beschäftigt man sich auf dem Fuß der Seite 1 augenzwinkernd mit einer besonderen bayerischen Kultur. Weiter hinten: Leserbriefe, eine Liebeserklärung an Hamburg, Kürzest-Meldungen aus der "Bunten Welt" und "Das geht nicht gut, Manuela" - den Fortsetzungsroman. Die letzte Seite bringt die Serie "Hitler, Himmler und die Sterne" und viele Fotos.

Das Abendblatt muss seinen Platz in einem dicht besetzten Markt erobern. Anfangs ist es deswegen ziemlich "laut". Das gibt sich mit rasch wachsender Abonnentenzahl. "Sie werden bestätigen", schreibt Axel Springer einem Leser im Februar 1949, "dass das Abendblatt in der Gestaltung und im Inhalt ruhiger geworden ist und auf die Erfordernisse des Straßenverkaufs weniger Rücksicht nimmt, als dies in den ersten Tagen der Fall sein musste."

Im März 1949 schreibt er einem anderen Kritiker: "Wir wollen etwas Anständiges machen. Etwas, was Freude macht, was hilft, was das Leben etwas schöner für hunderttausend Leser macht. Und das ist mit einer so lebendigen Zeitung zu machen! Man muss nur genug Verstand, Wirklichkeitsnähe und Herz haben! Interessanter als jeder Mordprozess ist jede Nachricht, jeder Artikel, der mit dem echten Leben Kontakt bringt. Man muss nur natürlich sein. Das Indirekte tötet uns alle. Leider werden die meisten Zeitungen von erstarrten Artisten gemacht."

Um sein Ziel zu erreichen, kommt er "anfangs täglich, später regelmäßig montags in die Konferenz und zog aus allen Anzugtaschen kleine Zettel. Darauf stand, was ihm gefallen hat und was nicht. Er ging mit seiner Kritik bis in kleinste Details", erinnert sich Peter Tamm, der 1948 als Schifffahrtsjournalist beim Abendblatt anfing und später Verlagschef wurde. "Seine Frage war immer wieder: Was interessiert die Leser daran wirklich? Und haben wir das geschrieben?" Sein Chefredakteur bekommt mehrseitige, schonungslose Blattkritiken und Änderungsvorschläge. Von seinen Redakteuren fordert er: "Machen Sie die beste Lokalzeitung, die es in Deutschland gibt. Und wenn das nicht reicht: Machen Sie die beste Lokalzeitung der Welt!"

Es ist eine Truppe gestandener Schreiber und Blattmacher, die Springer für sein Abendblatt zusammengeholt hat: Im Kern Mitarbeiter des "Hamburger Fremdenblattes". Dazu Berliner Top-Journalisten und Mitarbeiter wie sein journalistischer Lehrer Walther Hansemann, die Springer noch von den 1941 eingestellten "Altonaer Nachrichten" seines Vaters kannte. Wilhelm Schulze, genannt "Schulze-Tokio" (weil er einige Jahre als Korrespondent in Japan gearbeitet hatte), wird der erste Chefredakteur (s. Seite 34) - ein Vollblutjournalist, den kleinste Unachtsamkeiten zur Raserei bringen. Die Ruhe selbst ist dagegen sein Stellvertreter Otto Siemer, der ihm vier Jahre später auf dem Chefsessel folgt.

Die Nachrichten tickern oben unterm Dach auf schmalen, endlosen Papierstreifen aus den Hell-Schreibern der Agenturen und werden von flinken jungen Damen abgeschrieben. Deren Nachbarinnen: die Fotolaborantinnen, die im heißen Sommer die Filme schon mal im Badeanzug entwickeln, weil die Hitze kaum erträglich ist. Das junge Abendblatt hat auch Korrespondenten: in London, Paris, Bonn, Frankfurt, Berlin - und in Lüneburg.

Die Redaktionsräume im 5. und 6. Stock des Volksfürsorge-Hinterhauses sind bescheiden. Sportredakteur Mossdorf: "Wir hatten nur einen Stuhl, den zweiten mussten wir erst mal organisieren. Eine Papierschere, Leim und Bleistifte habe ich mit in die Redaktion gebracht, sowie meine Reiseschreibmaschine." Schreibmaschinen waren Mangelware. Deshalb werden welche gemietet - pro Tag für stolze drei der noch jungen D-Mark. Um Kosten zu sparen, werden sie nach Redaktionsschluss der Sonnabendausgabe zurückgebracht und am Montag früh wieder geholt. Knapp ist alles. "Nur drei Dinge waren wichtig", erinnert sich Peter Tamm: "Themen, Schreibpapier und ein dicker Wintermantel als Arbeitskittel."

Reichlich gibt's nur Lesematerial: 35 deutsche und sechs ausländische Zeitungen sowie 22 deutsche und zwölf ausländische Zeitschriften sorgen neben den Agenturen für den steten Nachrichtenfluss.

Los geht's morgens um 6 Uhr, in der Setzerei mit Manuskripten vom Vorabend und mit den Nachrichtenstenografen, die telefonisch Meldungen aus Rom oder Washington aufnehmen. Jede Minute ist teuer; beim Nachrichtenchef steht eine Stoppuhr auf dem Schreibtisch.

Ab 6.30 Uhr kommen die ersten Redakteure. Der Verleger fährt in seinem Opel P4, Baujahr 1936, auf den Hof der Volksfürsorge. Zupft aus dem Blumenstrauß am Empfang eine Nelke fürs Knopfloch seines eleganten Anzugs. 7.30 Uhr, Konferenz im Zimmer des Chefredakteurs. Da qualmen Köpfe und Zigaretten. Themen werden diskutiert, das übliche Gerangel um den besten Platz im Blatt, Reporter jagen los. Gegen 10 Uhr geht es hoch her in der Setzerei im dritten Stock, um 11 Uhr werden die letzten Seiten umbrochen, wird aus dem Bleisatz das Bild der Seiten geformt.

12 Uhr: Die Seite 1 muss fertig werden. Sekunden zählen. Die Mater, ein Pappnegativ der fertigen Seite, wird geprägt - der Expressbote wartet schon. Dann der Ruf: "Mater" - Türen fliegen auf, der Bote rast zum Auto und zur Druckerei Broschek. 14 Minuten bleiben, die Mater mit Blei auszugießen und die Druckform auf die Rotation zu bringen. Um halb eins beginnen sich die Walzen der gewaltigen Maschine zu drehen, wenig später werden die Schlagzeilen der ersten Exemplare am Jungfernstieg ausgerufen.

Atempause für Redaktion und Technik. Schnell was essen, kurz in die Sonne setzen an der Alster, und schon geht's weiter mit der nächsten Ausgabe.

Bald jagt beim Vertrieb eine Erfolgsmeldung die nächste: Mit 60 000 Exemplaren war die erste Ausgabe erschienen, nach sechs Wochen sind es 107 000, nach einem halben Jahr 170 000. Ab dem 1. September 1949 erscheint das Abendblatt sechsmal pro Woche. "Jeder zweite Hamburger im erwerbsfähigen Alter hat täglich Ihre Anzeige vor Augen", heißt es in einer Eigenanzeige. Und die Auflage steigt weiter, bis weit über 300 000.

Der Vertrieb läuft wie geschmiert. Nach den Verkäufern vom Jungfernstieg holen Expressradfahrer dicke Zeitungspakete bei der Geschäftsstelle, einer Holzbaracke an der Adolphsbrücke, ab und verkaufen sie an Kioske und Zeitungsläden. Drei-, viermal nacheinander, gegen Bargeld, für Provision.

Wenig später treten die Zeitungsausträger in die Pedale, Schuljungs. Anfangs kann jeder seine Abonnenten an einer Hand abzählen. Trotzdem bekommen die Austräger reichlich Exemplare mit: "Einfach in die Briefkästen stecken, eine Woche lang. Dann klingeln und freundlich nachfragen." Die Zeitungsjungen tun's gern: Jeder neue Abonnent bringt ihnen zehn Mark - damals viel Geld. Nach einem Jahr kann sich das Abendblatt bereits auf 120 000 Abonnenten verlassen.

Neun Monate dauert es nach dem Abendblatt-Start, bis im Juni 1949 klar ist: Die neue Tageszeitung versammelt auf ihren Seiten mehr Anzeigen als jeder der fünf Konkurrenten - das Hamburger Abendblatt steht auf eigenen Beinen und hat eine sichere finanzielle Grundlage.

"Wie das ,Wunder' geschah", titelt die Anzeigenabteilung stolz ihre erste Jahresbilanz.

Woher kommt der Erfolg? Es war Springers Konzept, eine unabhängige Zeitung für alle zu machen. Das Abendblatt legt sich nicht ideologisch fest und kann so Leser und Anzeigenkunden aus allen politischen Lagern gewinnen. Die Konkurrenten, sämtlich Parteizeitungen, bedienen nur Anhänger einer Richtung und verprellen alle anderen.

Den Lesern sind Anzeigen wichtig: "Der Anzeigenteil hat sich nach dem Krieg als reiner Lesestoff erwiesen, als unentbehrliche Informationsquelle." Sie zu bekommen ist dennoch Knochenarbeit, wie sich der damalige Anzeigenberater Gerhard Becher erinnert: "Wer im Herbst 1948 in Hamburger Zeitungen Anzeigen schaltete, aber nicht im Abendblatt, bekam einen freundlichen Anruf von uns."

Axel Springer weiß, welcher Lesergruppe er diesen Erfolg vor allem zu verdanken hat. Bald nach dem Start spöttelt ein hanseatischer Kaufmann: "Wie geht es eigentlich Ihrem Abendblatt? Ich lese es ja nicht, aber meine Frau und meine Tochter schwören drauf." Springer antwortet: "Genau darauf kommt es mir an."

Die Stadtteile werden nacheinander vom Vertrieb für das Abendblatt erobert. Die Abo-Abteilung im Volksfürsorge-Haus macht in diesen Monaten jede Menge Überstunden. Sogar der Opel P4 des Verlegers muss anfangs mit ran zum Ausliefern, bald aber steht eine ordentliche Flotte dreirädriger Tempo-Kastenwagen in Abendblatt-Grün auf dem Volksfürsorge-Hof.

Das "Zeitungswunder von Hamburg" hat - neben dem Redaktionskonzept, den Anzeigen- und Vertriebsprofis - noch einen Vater: Werbeleiter Hans-Heinrich Schreckenbach, der mit ständig neuen populären Aktionen Sympathiepunkte für die Zeitung sammelt (s. Seite 76/77).

Mit "Bürgermeister für einen Tag" fängt es an: Vorschläge der Leser, was man in Hamburg verbessern kann. Der Preis: ein elektrischer Kühlschrank. Ab Februar 1949 ist Herr Lombard unterwegs: Redakteur Klaus Losch, immer neu verkleidet. Wer ihn als Erster aufspürt und anspricht, bekommt 100 Mark, was bedrohliches Gedränge auslöst. Seifenkisten starten zum Derby, das Abendblatt verteilt Maiglöckchen zum Frühlingsbeginn, jeden Tag rollt die weiße Abendblatt-Hochzeitskutsche durch die Stadt. Devise: "Das Abendblatt ist mehr als eine Zeitung."

Axel Springer kauft und entwickelt in späteren Jahren noch andere sehr erfolgreiche Zeitungen. Doch den wirtschaftlichen Grundstein zum größten Zeitungshaus Deutschlands legt,neben der "Hörzu", sein Hamburger Abendblatt.