Von Hurenkindern und Rasterpunkten - Erinnerungen an vergangene Bleizeiten.

Hamburg. Journalist sein kann man nicht lernen, als Journalist wird man geboren, oder man wird es nie. Journalisten gibt es, seit es Menschen gibt. Die Nachricht ist eine Schwester der Neugier. Und die Neugier, die Gier nach Neuem aus nah und fern, ist eine menschliche Eigenschaft, die an jedem Tag (franz. le jour ) ihr Journal , ihre Zeitung, haben will. Manche meinen sogar, unser Beruf sei älter als die Schöpfung. Karl Kraus behauptet kurz und bündig:

Am Anfang war die Presse, und dann erschien die Welt.

Seien wir etwas bescheidener und sagen: Am Anfang war Johannes Gutenberg, der um 1450 in Mainz den Buchdruck mit beweglichen Metalllettern erfand. Erst diese Technik ermöglichte es viele Jahrhunderte lang, schnell und immer wieder neu Nachrichten zu Papier zu bringen und in hoher Auflage zu drucken.

Bei Homer wurde noch mündlich von Schlachten berichtet, die Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte zurücklagen, aber erst die Druckerpresse machte die Presse zur Presse. Flugblätter brachten die Reformation voran, und irgendwann fasste man die Nachrichten und Neuigkeiten (altdt. tidinge/zidung) zu regelmäßigen Druckwerken zusammen, zur Zeitung eben.

Eine Zeitung ist aktuell, sie erscheint periodisch, sie ist jedem zugänglich, lehren die Publizistikwissenschaftler. Das erste Periodikum, das diese Kriterien erfüllte, soll 1609 der "Aviso" in Braunschweig gewesen sein. Aber auch die Region Hamburg mit den damals dänischen Städten Altona und Wandsbek wies bald eine Zeitungsdichte auf, von der man heute nur träumen kann. Es begann 1618 mit der "Wöchentlichen Zeitung auß mehrerley Örthern". Im Vergleich dazu ist das Hamburger Abendblatt , chronologisch betrachtet, ein Baby auf dem Medienmarkt - heute gerade einmal 60 Jahre alt geworden.

Die Redaktion ist für den Inhalt der Zeitung verantwortlich. Sie schreibt, wählt aus, recherchiert, kommentiert, platziert, illustriert und redigiert (lat. redigere - wieder lesen, korrigieren). Und dann gibt es noch "die Technik " jenseits der Büros und Redaktionsgroßräume, eine überaus wichtige Einrichtung. Schließlich hilft es wenig, wenn ein Blatt nur in den Köpfen der Autoren existiert, es muss auch hergestellt und gedruckt werden.

Entsprechend wichtig nahmen sich bis in die 80er-Jahre die Herren Drucker, Setzer, Metteure, Korrektoren und was es sonst noch für Spezialisten gab. Seit Gutenbergs Ära waren sie eine noble Zunft. Sie repräsentierten ein selbstbewusstes Handwerk, das den Beinamen Schwarze Kunst nicht zu Unrecht trug.

Ein Redakteur hatte früher im tiefsten Inneren immer den Eindruck, dass sein Beitrag zum Entstehen der täglichen Ausgabe in den Augen der Technik für verzichtbar gehalten wurde. Als ich vor mehr als 40 Jahren, frisch von der Universität und zur Feier des Tages in den inzwischen viel zu engen Konfirmationsanzug gezwängt, zum ersten Mal eine Setzerei betrat, musterte mich ein altgedienter Metteur von oben bis unten, sah kopfschüttelnd auf meinen Anzug und gab mir zum Berufsanfang die ermunternden Worte mit auf den Weg: "Journalisten sind alle gescheiterte Existenzen!"

Dann griff er zum Winkelhaken , hielt ihn geschickt in der abgeknickten linken Hand, während er mit der Rechten in den Setzkasten griff und Letter für Letter zur Überschrift des Aufmachers formte oder besser "setzte". Er war ein Schrift-Setzer .

Das geschah scheinbar blind und automatisch mit erheblicher Geschwindigkeit, während er mich immer noch kopfschüttelnd belehrte, falls ich etwas Anständiges hätte werden können, wäre ich ja wenigstens Lehrer geworden.

Ein Metteur war für den Umbruch zuständig, für das Aufteilen und passende Einrichten der Texte, Überschriften und Bilder auf einer Seite, wenn auch nach einer genau gezeichneten Vorlage, dem Layout . Sein Name kommt aus dem Französischen, von mettre en page - zu einer Seite zusammenstellen. Zum Zeichen seiner Fertigkeit durfte er bei Axel Springer einen grünen Kittel tragen. Graue Kittel signalisierten einen nicht ganz so fortgeschrittenen Status in der Hierarchie des grafischen Gewerbes.

Die Schwarze Kunst ist eine sehr alte Kunst. Sie hatte ihre eigenen Regeln, ihre eigene Sprache und vor allem ihr eigenes typografisches Maßsystem. Außenstehende, falls sie überhaupt eine Setzerei betreten durften, fühlten sich manchmal an die Zinken und Geheimausdrücke der Tippelbrüder erinnert.

Die Zunft der Setzer und Drucker hielt sich an die Vorgaben des Druckereibesitzers François Didot (1689-1757). Danach ist der Punkt die kleinste Einheit. Ein Didot-Punkt erweist sich mit dem Millimeter aber als nicht so recht kompatibel. Rechnet man um, ergeben sich 0,376 mm.

Sechs Punkt hießen nicht etwa sechs Punkt, sondern trugen die schöne Bezeichnung Nonpareille . Acht Punkt waren ein Petit , zehn Punkt ein Korpus . Cicero ist ein Zeitgenosse von Cäsar, in der Schwarzen Kunst aber die typografische Maßeinheit von zwölf Punkt.

Die Zeile, auf die Sie gerade schauen, hat die Schriftgröße von 8,5 Punkt auf einem Kegel (vertikaler Zeilenabstand) von neun Punkt und die Schriftart Centennial mager. Die Spaltenbreite beträgt in der Regel elf Cicero, an dieser Stelle aber ausnahmsweise neun Cicero und drei Punkt. Wir benutzen die Schrift Centennial zurzeit am häufigsten in unserer Zeitung. Sie ist quasi unser tägliches Brot, unsere Brotschrift .

Die Technik mit Metteuren im grünen Kittel, mit Bleilettern und Setzmaschinen gibt es heute nicht mehr. Sie ist zu den Redakteuren auf den Schreibtisch gekommen, und zwar in der Gestalt von Computern. Das Metallschiff, auf dem damals die Seite gebaut wurde, wurde zum Monitor, der Winkelhaken zur Maus und der Setzkasten zur Tastatur, die nun englisch als Keyboard bezeichnet wird. Nicht mehr Gutenberg und Mergenthaler geben den Ton an, sondern Bill Gates, Microsoft, Intel, SAP und das Redaktionssystem CCI. Das wichtigste Element des Zeitungsmachens heißt nicht mehr Blei, sondern Silizium.

Manche Kolleginnen und Kollegen seufzen und sehnen die Zeiten zurück, als ein Theodor Fontane sich erst eine Schwanenfeder zurechtschnitzte, bevor er sie gemächlich in das Tintenfass tunkte und dann seinen Artikel für die "Vossische Zeitung" begann. Beim Abendblatt hat zwar niemand diese Zeit miterlebt, aber es beruhigt die Nerven, in Nostalgie zu schwelgen.

Auch Europas heute größtes Zeitungshaus begann bescheiden, arbeitete sich in den ersten Nachkriegsjahren aus den Trümmern des zerstörten Hamburg empor. Axel Springer, der Verlegersohn aus Altona, hatte einen Traum: eine Tageszeitung zu machen, die ganz anders war als die bisherigen Blätter.

Die britischen Presseoffiziere gestatteten ihm zwar die Herausgabe der Rundfunkzeitschrift "Hörzu", wollten damals aber keine Zeitungslizenz an Einzelpersonen vergeben. So saß er im als Büro wenig geeigneten Hochbunker am Heiligengeistfeld und bastelte an seiner Zeitung. Die Hauslegende weiß zu berichten, dass ihm eine Obstkiste als Schreibtisch, eine aus den Trümmern geborgene Schreibmaschine als Arbeitsgerät und ein Holzvergaser als Zusatz für seinen alten Opel gedient haben sollen. Die Glühbirne über der Kiste wurde jeden Abend herausgedreht und versteckt, damit sie am nächsten Tag noch da war.

Als das Hamburger Abendblatt 1948 endlich erscheinen konnte und im Hinterhaus der Volksfürsorge gestaltet wurde, besaß es keine eigenen Schreibmaschinen. Die Maschinen wurden gemietet, tageweise und nur für fünf Tage in der Woche, um Geld zu sparen.

Bekanntlich ist die Geschichte des Abendblattes die Geschichte eines einmaligen Zeitungserfolges. Das Blatt eroberte Hamburg im Sturm. 1952 bekam es zwischen Fuhlentwiete und Kaiser-Wilhelm-Straße seine eigene Druckerei und im dritten Stock des jetzt unter Denkmalschutz stehenden Hochhauses am heutigen Axel-Springer-Platz 1 seine eigene Setzerei, die später auch von "Bild", "Welt" und zeitweise sogar vom "Spiegel" genutzt wurde.

Ein Artikel wurde damals als Manuskript geschrieben, redigiert, "ausgezeichnet" (mit Druckanweisungen versehen), an den Setzmaschinen Zeile für Zeile getastet und in Blei gegossen, in Kolumnen gesammelt, auf Fahnen abgezogen, korrigiert, die fehlerhaften Zeilen und, falls der Zeilenfall sich geändert hatte, der gesamte Absatz neu gesetzt, wiederum korrigiert, die Seiten auf Metall- Schiffen umbrochen, zur Probe auf einer angefeuchteten Seite abgezogen, geprüft, die "freigeschlagenen" Druckstöcke für Bilder und Zeichnungen mit Zinkklischees beklebt, "geprägt" (unter hohem hydraulischen Druck in eine Pappmater gepresst), die Mater halbrund gebogen, mit Blei ausgegossen und mehrere dieser Blei- Stereos auf eine Walze der Druckmaschine, die Rotation , montiert.

Was rund läuft, läuft schneller. Wenn sich die Rotation an der Fuhlentwiete in Bewegung setzte, erzitterte die Neustadt bis hin zum Alsterpavillon. Dieser Herstellungsprozess hatte seine genaue Arbeitsteilung und Hierarchie der gewerblichen Mitarbeiter.

Als ich an meinem ersten Tag bei Springer in der Setzerei, wie ich es aus der Provinz gewohnt war, mehr aus orthografischen als aus typografischen Gründen zum Winkelhaken griff, spürte ich einen schmerzhaften Schlag mit dem Stahllineal auf der Hand. "Redakteure fassen hier kein Blei an!", herrschte mich ein Metteur im grünen Kittel an, der in dieser Nacht das Privileg besaß, die Überschrift für den Aufmacher auf der Seite 1 setzen zu dürfen.

Wer Redakteur werden will, muss erst einmal zwei Jahre lang Volontär sein - oder Volontärin, denn das weibliche Geschlecht gewinnt immer mehr die Oberhand. Das ist jetzt nicht anders als in früheren Jahren. Heutzutage geben sich die jungen Kolleginnen und Kollegen jedoch weitaus selbstbewusster als damals: Sie sind mit Computer, Internet und Wikipedia aufgewachsen, kennen sich mit dem Heavy-Metal-Festival von Wacken aus und haben die "DDR" weder miterlebt noch jemals in Anführungszeichen geschrieben.

Früher, ich schäme mich dafür, wurde eine schüchterne Volontärin am ersten Tag erst einmal zum Auer-Druck am Speersort geschickt, um ein Viertelpfund Rasterpunkte zu kaufen, und dann, wenn sie mit puterrotem Kopf zurückkam, gefragt, wie viele Hurenkinder sie noch in die Welt setzen wolle.

Hurenkinder hatten natürlich nichts mit ihrem Lebenswandel zu tun, sondern waren die Bezeichnung für optisch nicht schöne Auslaufzeilen am Anfang einer Spalte.

"Volontäre" sind "Freiwillige". Sie begeben sich freiwillig in eine Umgebung, in der jeden Tag aus dem Chaos und Nichts eine geordnete Zeitungsausgabe entsteht, die dem Leser womöglich sogar gefällt. Sie bleiben meistens zwei Jahre, sind dann Redakteure oder Redakteurinnen und dem Journalismus süchtig bis an ihr Lebensende verfallen (fast alle) - oder sie sind vorher entflohen (ganz wenige). Vor einigen Jahren verabschiedete sich einer mit den bitteren Worten aus der Redaktion: "Das einzige Irrenhaus mit eigener Zeitung!" Wir vermissen ihn nicht.