Von Grünpflanzen, Kulturkämpfen, Klimaanlagen, den Sachsen und knapp verhinderten Katastrophen: Das Abendblatt intern und live.

Hamburg. So eine Zeitungsredaktion ist ein lebendiges Biotop mit den verschiedensten Organismen, die sich jeden Tag neu erfinden. Das Ergebnis ist meistens die Zeitung, die Sie lesen. Vielleicht könnte man das Hamburger Abendblatt auch anders herstellen, aber das ist nicht bewiesen.

In unserem Biotop verständigen wir uns über einen Kanon von Kernsätzen. Die meisten beginnen mit "Wo ist" oder "Haben wir" oder "Kann mal jemand". Zum Beispiel: Haben wir das exklusiv? Kann mal jemand die Druckerpatrone wechseln? Wo ist Dr. Müller? Wo ist der Steinbrück? Zumindest "der Steinbrück" taucht meistens wieder auf, als Artikel irgendwo in den virtuellen Katakomben des Computersystems.

Sein und Haben spielen eine zentrale Rolle. Wir "haben" ein Interview mit 160 Zeilen, aber im Layout "sind" nur 100 eingeplant. Unvergessen bleibt ein gewissenhafter früherer Politik-Chef, der auf der Konferenz jeden Tag die interessantesten Stoffe inklusive Weltlage ankündigte - Material für etwa vier Wochen - und abschloss: "Und dann haben wir da noch eine sehr interessante Arbeit über die Geschichte der Turkvölker mit 400 Zeilen. Aber das müssen wir natürlich nicht heute machen." Leider reichte der Platz für die Turkvölker nie, er packte sie milde resigniert wieder auf den "Hoffnungshaufen".

Sehr häufige Formeln sind auch das entrüstete "Also Leute, jetzt ..." oder das leicht renitente "Na dann nicht". Am gefährlichsten ist die Frage "Und wer schreibt uns das?", denn die Antwort lautet meistens: "Du!"

Um Seiten und Themen gibt es natürlich Konkurrenzkämpfe. Die Kulturredaktion beispielsweise klagt ständig über zu wenig Platz. In Hamburg gibt es einfach zu viele Ausstellungen, Theaterstücke, Klassik-, Open-Air- und Klubkonzerte und Filme, über die berichtet werden muss. Am besten mit großem Anrissfoto auf der Seite 1. Jetzt kommt aber noch das große Benefizkonzert plus anschließender Promi-Party. Und der große Grand-Prix-Vorbericht unseres Schlager-Experten, der auf der Seite "Aus aller Welt" leider nicht mehr unterzubringen ist. Im Feuilleton wird das Florett gezückt: Kafkas "Bericht für eine Akademie" ist doch wohl wichtiger als irgendwelche Popsternchen! Orhan Pamuk im Literaturhaus ist doch wohl wichtiger als Schlager! Wortreicher Einspruch: Sind Schlager etwa keine Kultur??? Emissäre pendeln mit weißen Fahnen zwischen den Kombattanten. Könntest du den Kafka auf 40 Zeilen ...? NEIN! Könnten wir den Grand Prix noch verschieben? KEINESFALLS! Der rettende Kompromissvorschlag beginnt meistens mit dem Satz: "Also Leute, vom Leser her gesehen ..." Gut, dass der Leser am nächsten Tag von dem Gemetzel nichts ahnt.

Die Leute vom Verlag wünschen sich eine Redaktion wie in amerikanischen Filmen: Schreibtische, Computer, Telefone, im Hintergrund die Kaffeemaschine, alles hektisch-nüchtern-funktional. Die Wirklichkeit im Abendblatt-Biotop sieht anders aus: Jeder Arbeitsplatz wird individuell liebevoll gestaltet und spiegelt die Persönlichkeit seines Bewohners. Einige Kolleginnen leben hinter dschungelartig wuchernden, selbst gezogenen Grünpflanzen, die bei Kontakt äußerst empfindlich reagieren. In der Fotoredaktion gab es mal einen übersichtlich-minimalistisch ausgestatteten Schreibtisch, an dem der Kollege saß und sich winzig kleine Terminzettel schrieb. Kam man mit einem Auftrag, empörte er sich: "Du siehst doch wohl, was hier alles los ist!" In einer Redaktion ist großes Einfühlungsvermögen stets von Vorteil.

In der Wirtschaftsredaktion wiederum umgibt man sich gern mit Batterien von Mineralwasserflaschen. Chefredakteure kommen und gehen - aber wenn der Getränkelieferant wechselt, ist das eine echte Zäsur.

Wenn Abendblatt-Journalist/inn/en an ihren gedrechselten Sätzen feilen, schreibt das schweifende Auge ja mit. Deshalb werden Arbeitsplätze mit Urlaubsfotos, Familienfotos, Filmplakaten und Stofftieren dekoriert. Für exzellentes Feng-Shui sorgen Dalai-Lama-Fotos und Duftkerzen. In manchen Büros dringt aus meterhohen Stapeln von Büchern, Post, Zeitungen und PC-Zubehör eine menschliche Stimme. Vielleicht der viel gesuchte Dr. Müller?

Auch beim Abendblatt achten wir auf Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Allein schon durch die Topfpflanzen. Ein Kollege vom Layout kompostiert sogar die Sektkorken der Redaktionsfeiern. Die Klimaanlage versorgt alle nachhaltig und gerecht mit den gleichen Bazillen. Persönliche Kleinkriege gibt es seit dem Gründungsjahr 1948 - aber heute werden sie über die Klimaanlage ausgetragen. Kaum geht Frau P. ("Eisbeine!") zum Kopieren, stellt Frau K. die Anlage runter, weil sie schwitzt "wie am Äquator". Und umgekehrt. Und alle anderen fühlen mit.

Ältere Kollegen behaupten, dass das Biotop in den 80er- und 90er-Jahren irgendwie gemütlicher gewesen sei. Es gab damals sogar ein paar Redaktionshunde im Abendblatt. Die Wirtschaftsredaktion wurde von einem winzigen Yorkshireterrier bewacht, der oft ohne Vorwarnung ein gellendes "Jifff!" hervorstieß. Es kam auch häufiger zu ressortübergreifenden Spontanfeiern, bei denen ausgelassen getrunken und natürlich auch noch geraucht wurde. Junge Kolleginnen versackten gerne bei lustigen Gesprächen in der Setzerei.

Die Setzer gibt es nicht mehr - stattdessen haben wir mittlerweile schon das dritte Computersystem. Der Beginn der Computerisierung stieß auf Skepsis. Als eine junge Kollegin bei einer Themenkonferenz über ein neues System namens "Windows" berichtete, sagte ein altgedienter Politikredakteur zu seinem Nachbarn: "Ich hör hier immer Windows - ich kenn nur Veluxfenster."

Die Wende 1989 brachte für die Redaktion ganz neue Herausforderungen. Telefonrecherchen in den neuen Ländern dauerten anfangs oft Stunden und endeten manchmal unbefriedigend ("Einen Herrn Xrwalla gibt es in Chemnitz nicht"). Deshalb brachen wir in Scharen zu Reportagen gen Osten auf, immer mit Stullenpaket, Thermoskanne und Benzinkanistern - Tankstellen waren drüben noch rar. Im Gegenzug gab es bald auch im Biotop sächsische Töne. Ein neuer Kollege aus dem Osten fasste seinen Eindruck in einem Kommentar so zusammen: "Hamburgs Altstadt wurde auf Pfählen im Wasser erbaut, aber die Leute haben keine nassen Keller. In Leipzig ist es umgekehrt."

Die viel diskutierte Anglisierung machte auch vor der Redaktion nicht halt. Volksfest hieß plötzlich Event. Manche Kollegen können aus dem Stand die heisenbergsche Unschärferelation erklären, wissen aber nicht genau, was ein Browser ist. Englisch kann mitunter tückisch sein. Ein hoffnungsvoller Volontär wurde mal zu einem Roger-Whittaker-Konzert geschickt. Über seinem Bericht prangte anderntags die Zeile "Abschied ist ein schwarzes Pferd". Klar, dass da viele scharfe Schwerter geschwungen wurden.

Jedes Biotop hat ein Zentrum und einen Rand. Der Blattmacher und seine Kollegen in der "Glocke" (benannt nach einer früher berüchtigten Zelle im Untersuchungsgefängnis) sind das gefühlte Zentrum, sie leiten den Nachrichtenteil und überraschen mit ständig neuen Vorschlägen. Der Rand macht derweil die Zeitung. Viele Blattmacher glauben, dass sie die Leser vor der lustvoll überbordenden Fantasie der Redakteure manchmal schützen müssten. Die Worte "stramme Stangen" im Vorspann einer großen Spargel-Geschichte im Journal gingen zum Beispiel nicht durch: zu erotisiert für eine Familienzeitung, teilte der Blattmacher den Journal-Leuten mit. Die murmelten etwas von "Pietcong" und ersetzten die strammen Stangen nörgelnd durch "Edelgemüse".

Sehr beliebt sind Vorschläge für Geschichten aus "der ungewohnten Perspektive": Ein Fußballspiel könnte doch mal von einem Politikredakteur kommentiert werden! Der frühere Politikexperte Felix Grill ging also zum HSV und schrieb, es sei wie in der Oper, nur dass einem dort nicht wildfremde Menschen um den Hals fielen oder Pappbecher in die Hand drückten. Die Mannschaften seien von rechts nach links und von links nach rechts gelaufen. Sein Schlusssatz: "Übrigens, eine hat gewonnen."

Solche Termine "draußen" sind meist mit Spesenabrechnungen verbunden. Als es das Hansa-Theater noch gab - in dessen Programm eigentlich nicht viel zu rezensieren war -, durfte darüber stets der jeweils dienstjüngste Mitarbeiter schreiben, zum Trost mit der ausdrücklichen Erlaubnis, sich dort - per Tischklingel! - einen "Theaterteller" zu bestellen und als Spese abzurechnen. Generationen haben das "Spesen machen" hier gelernt. Klärungsbedürftiger war der Spesenanfall, als eines Tages ein interessantes ausländisches Schiff im Hafen lag: Gleich fünf Redakteure hatten den Kapitän angeblich am selben Tag zum Mittagessen eingeladen. Der Chefredakteur mahnte: "Meine Herren, überfordern Sie mir den Mann nicht!"

Auch beim Abendblatt passieren immer mal Beinahe-Katastrophen. Zum Beispiel, wenn kurz vor Andruck gegen 21.30 Uhr plötzlich der Computer "steht" und dann der Text weg ist. In solchen Fällen helfen nur zwei Dinge: heiterer Fatalismus und ein Anruf bei Uschi oder Wolfgang, den Systembetreuern. Eine schlimmere andere Katastrophe konnte vor Jahren knapp abgewendet werden: Ein Kollege sammelte 1200 Leserzuschriften mit richtigen Lösungsbegriffen für das beliebte Abendblatt-Sommerrätsel und packte sie in eine Plastiktüte, die er auf dem Boden neben seinem Schreibtisch deponierte. Am anderen Morgen früh kam die Putzfrau und ... dann war die Tüte weg.

Eine Notfall-Eingreiftruppe des Wochenend-Journals recherchierte, dass die Abendblatt-Müllcontainer bereits auf dem Weg zur Müllverbrennungsanlage Stellingen waren. Dort postierten sich zwei Abendblatt-Kollegen am Förderband. Sie haben die Plastiktüte tatsächlich herausgefischt - und 1200 glückliche Leser konnten ihre Preise bekommen.